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Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht
Autoren: Masako Togawa
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Wandermusikanten sehen; einen Geiger und einen Gitarristen, die die Begleitung gespielt hatten. Schüchtern begann sie, das Lied mitzusingen, das zu den Pflichtstücken an ihrer Oberschule gehört hatte. Ihre Stimme und der Baß ergänzten sich perfekt. Sie sangen gemeinsam, sie schwiegen gemeinsam in vollkommener Harmonie, die sie in ihrem Bann hielt, bis Gitarre und Geige verstummten und schließlich auch der Baß verhallte.
    Wer war dieser Mann, dessen Stimme sich so hervorragend mit der ihren ergänzte? Unfähig, ihre Neugier im Zaum zu halten, stand sie auf und ging nach unten, von der magischen Stimme gelenkt wie eine Marionette. Sie stieg die Treppe hinunter und tauchte in das allgemeine Getöse ein; unsicher spähte sie ins ungewohnte Dunkel, aber alles, was sie durch die aufsteigenden Rauchsäulen erkennen konnte, waren schwarze haarige Köpfe, die einander zu überlagern schienen. Was sollte sie tun?
    Und dann kam ihr eine Idee. Der Geiger wollte gerade die Bar verlassen; sie stürzte auf ihn zu und stellte sich ihm in den Weg.
    »Verzeihen Sie, mein Herr. Würden Sie das bitte noch mal spielen?«
    »Sicher, junge Dame, so oft Sie möchten.« Der Geiger, dessen Haaransatz bis an die Schädelkuppe zurückgewichen war, gaffte sie und den 100-Yen-Schein, den sie ihm entgegenstreckte, neugierig an. Dann nahm er das Geld und rief seinen Kollegen zurück. Sie begannen wieder zu spielen, und plötzlich ertönte über das Stimmengewirr hinweg wieder die fantastische, eindringliche Bassstimme. Ihr Besitzer entpuppte sich als ein Mann, der im Schatten direkt am Tisch hinter ihr saß. Sie verrenkte vorsichtig den Hals, um ihn besser sehen zu können, ohne dabei allzu neugierig zu erscheinen.
    »Warum setzen Sie sich nicht zu mir?« fragte die tiefe Stimme, und sie gehorchte, als ob es das Natürlichste von der Welt wäre. Es war, als hätten sie sich hier verabredet.
    »Spielt weiter!« rief der Mann, und dann sangen sie beide in vollkommener Harmonie.
    Sie tauschten die ganze Zeit über Blicke aus; als würden sie sich schon seit Jahren kennen.
    »Los, Leute, wir wollen zur Abwechslung mal was anderes hören!« kreischte ein Gast.
    Der Geiger ließ sein Instrument sinken und fragte: »Tja, soll ich ein anderes Stück spielen?«
    Sie sah ihren Begleiter an und wandte sich dann dem Musiker zu.
    »Nein danke, das reicht. Sie können gehen.«
    Kurz darauf ging auch sie, in Begleitung des Fremden, der ihre Rechnung bezahlt hatte. Als sie aus der Bar traten, fiel das Licht einer Straßenlaterne auf ihn, und sie konnte ihn zum erstenmal richtig sehen. Sie schätzte ihn auf etwa dreißig; er hatte ein schönes, klares Gesicht; sein Anzug war geschmackvoll und elegant. Alles in allem sah er wie die Verkörperung jedes Jungmädchentraumes aus, und sie dachte mit Bedauern, daß sie ein recht ungleiches Paar abgeben mußten.
    Einige Stunden später sanken sie auf die Rückbank eines Taxis. Jetzt hielt er ihren dünnen Körper in seinen langen Armen und wühlte mit dem Kinn in ihrem Haar.
    »Fahren Sie uns irgendwohin, wo wir uns ordentlich ausschlafen können«, sagte er zum Fahrer. Seine Stimme klang erschöpft, fast monoton.
    »Wird gemacht, mein Herr. Lieber was im westlichen oder im japanischen Stil?« Dann stürzte sich der Fahrer mit einem gefährlichen Manöver in den Verkehr. Vielleicht hatte sie den Wortwechsel zwischen dem Fahrer und ihrem Partner wirklich gehört, vielleicht auch nicht. Sie lag reglos und mit fest geschlossenen Augen in seinen Armen.
    Sechs Monate später.
    Sie hing mit den Händen am Fenstersims, aber ihre Gedanken waren ganz woanders; sie weilten bei der Begegnung in der Bar vor sechs Monaten. Ein kalter Wind strich über ihre Füße.
    >Es tut mir nicht leid, daß ich mit ihm geschlafen habe<, dachte sie. Aus ihrem trüben Alltag, aus dieser Hölle ragte diese Begegnung einsam und vollkommen heraus.
    Sie preßte sich an die rauhe Betonwand; der Stein drückte gegen ihre Nase, ihre Wangen, ihre kleinen Brüste und den schwellenden Bauch bis hinunter zu ihren Knien. Mit jedem Moment schien ihr Körper stärker an den dürren Armen zu ziehen. Wenn ihre Arme das Gewicht nicht mehr halten konnten, ihre jetzt schon tauben Finger unter der Belastung nachgaben, dann würde sie loslassen und vom siebten Stock in die Tiefe stürzen. Nur noch ein wenig Geduld — zwei Minuten, vielleicht drei...
    Sie fragte sich, weshalb der Mann mit der tiefen Stimme nach dieser einen Nacht wieder aus ihrem Leben verschwunden
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