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Schwestern der Nacht

Schwestern der Nacht

Titel: Schwestern der Nacht
Autoren: Masako Togawa
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war. Trotzdem hegte sie keinen Groll gegen ihn — sie war ihm sogar dankbar, denn er war das einzige Licht in ihrem kurzen grauen Leben gewesen.
    >Er kann nichts für die Krämpfe, die ich nach der Arbeit in den Fingern kriege<, dachte sie, >genausowenig wie für die Schmerzen abends in meinem ganzen Körper. Ihn trifft keine Schuld.< Daß sie tausendmal am Tag auf diese Tasten hämmern mußte, das war schuld, nicht er. >Nur seinetwegen habe ich dieses Leben wenigstens noch ein halbes Jahr ausgehalten. Die Erinnerung an seine Stimme gab mir die Kraft weiterzumachen. Nur sie hat den Lärm in meinem Kopf erträglich gemacht, dieses Dröhnen, wie ein frisiertes Motorrad gedämpft. Seine tiefe Stimme hat mich verzaubert, Körper, Seele, alles. Warum hat er seinen Samen in mich gepflanzt, nur um mich zu verlassen?< Aber auf diese Frage gab es keine Antwort.
    Das Kind in ihrem Leib bewegte sich. War es das Leben in ihr, das diesen gewaltigen Druck ausübte, oder war es nur die Wand?
    Ihre Arme waren inzwischen völlig gefühllos. Wenn sie nur noch einmal von ihm träumen, noch ein einziges Mal seine Stimme hören könnte, die Tortur wäre noch ein wenig länger zu ertragen. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sein Bild war verschwunden. Statt dessen setzten in ihrem Kopf wieder die Geräusche ein, ganz schwach zuerst, wie das Summen eines Mückenschwarms. Und vor sich sah sie nur die harte Betonwand.
    Plötzlich und zum ersten Mal wurde sie von Entsetzen gepackt; es war die Furcht vor dem nicht mehr zu verhindernden Ende. Sie versuchte verzweifelt, ihren Griff zu verstärken, aber ohne Erfolg; ihre Finger hatten jegliches Gefühl verloren. Auch die Arme waren taub, die Schultern wie tot. Der eisige Wind fuhr unter ihr Kleid, ließ auch die untere Hälfte ihres Körpers gefühllos werden. Einer nach dem anderen gaben ihre Finger das Fensterbrett frei.
    Die romantische Begegnung in der Bar war vergessen, vergessen auch das zappelnde Wesen in ihrem Bauch. In diesen letzten Sekunden wurde sie an die Ufer ihrer Kindheit zurückgespült, wie sie am Reck in der Turnhalle hing und, jede einzelne Muskelfaser vor Schmerz verkrampft, versuchte, sich wieder hochzuziehen. Wie unendlich lang sich damals jede Sekunde hingezogen hatte, wie lang jetzt...
    Als letzter rutschte der schwielige Finger ab, den eines Tages ein Ehering hätte schmücken sollen. Jeglichen Bezug zur Realität verloren, stürzte sie der Erde entgegen.
    Kurz nach ein Uhr morgens am Erwachsenentag — dem 15. Januar, einem gesetzlichen Feiertag—wurde von einem Sicherheitsbeamten direkt neben dem Firmengebäude die zerschmetterte Leiche von Keiko Obana, Schreibkraft bei der K-Lebensversicherungsgesellschaft, gefunden.
    War es Selbstmord? Oder vielleicht gar Mord? Es gab eine Menge Gerede darüber, bis die Polizei endlich das Ergebnis ihrer Ermittlungen bekanntgab. Nach der Autopsie wurde erklärt, es läge Selbstmord infolge einer Neurose vor. Man hatte festgestellt, daß der Ringfinger der Verschiedenen eine leichte Sehnenscheidenentzündung aufwies, die Berufskrankheit von Schreibkräften.
    Der Sicherheitsbeamte erklärte im Verlauf seiner Vernehmung, er habe Keiko Obana trotz des Feiertages in ihr Büro gelassen, weil sie angeblich ein paar Notenblätter für ihren Chor kopieren wollte. Das Unternehmen mußte die Selbstmordthese natürlich zurückweisen und berief sich darauf, daß ein Abschiedsbrief fehlte. Der Raum war erst kurz vorher mit einem starken Insektenvertilgungsmittel behandelt worden; Keiko mußte versucht haben, das Fenster zu öffnen, und hatte sich dabei zu Tode gestürzt.
    Die Polizei hatte zwei Gründe, von einem Selbstmord auszugehen. Erstens sprachen die Abdrücke auf dem Fenstersims eindeutig dafür. Der zweite Grund war ein Faktum, das nicht öffentlich bekanntgegeben wurde. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Keiko Obana im sechsten Monat schwanger.
    Obwohl das wahrscheinlich jedermann von der Richtigkeit der polizeilichen Vermutung überzeugt hätte, durfte nicht ein einziges Wort darüber der Presse gegenüber laut werden. Diese Entscheidung hatte der Chef der örtlichen Polizeistation getroffen, dem der Obana-Fall übertragen worden war. Sein Taktgefühl hatte ihn zu diesem Schritt veranlaßt; nur Keikos ältere Schwester setzte er über ihre Schwangerschaft in Kenntnis, als sie aufs Revier kam, um als einzige Hinterbliebene die Leiche in Empfang zu nehmen.
    »War sie verlobt oder so?« fragte er umständlich. Die Schwester saß ihm
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