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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Alkohol, Zigaretten und Computer waren streng verboten, Drogen und Pornos sowieso. Wie Geronimo und sein Zimmerkumpel Tommi es bisher geschafft hatten, fast alles das vor den Filzern zu verbergen, war mir ein Rätsel. Im Testosterontrakt, wie er die Abteilung der älteren Internatsschüler nannte, flogen dauernd Jungs auf, nur ihn traf es nie.
    «Springe nie ohne Netz und doppelten Boden», hatte Geronimo mal geschrieben und sich nicht weiter von mir löchern lassen.
    Als ich ihm geschrieben hatte, dass es ihm nicht viel schlechter ginge als mir mit meinem Vater, war er ziemlich einsilbig geworden. «Du hast immerhin einen Vater», hatte er getickert, und irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass ich diese Bemerkung nicht weiter hinterfragen sollte.
    «Frau Sudermann ist tot», tippte ich in das Chatfenster.
    «Die alte Nazioma aus dem Heim?»
    «Hey! Sie ist aus ihrer Heimat vertrieben worden und hat alles verloren.»
    «Andere haben ihr Leben verloren.»
    «Sie war gegen Hitler.»
    «Waren sie nachher alle. Nachdem die Mauer auf war, gab’s kurz drauf auch keine Stasi-Leute mehr. Hat sie was gegen ihn getan, das ist die Frage.»
    «Die kann ich ihr aber nicht mehr stellen.»
    «Hätteste mal tun sollen.»
    «Du bist ja echt gut drauf, ist vielleicht besser, wenn wir morgen reden.»
    «Bin morgen nicht da, muss weg.»
    «Eine Aktion?»
    «Es ist spät.»
    Wenn er nicht wollte, wollte er nicht.
    «Ich brauche deine Hilfe.»
    Er antwortete nicht.
    «Ich hab ein Problem.»
    «Wer hat das nicht.»
    Du bist echt ein Arsch, tippte ich ein und löschte es wieder. Er war selten so drauf, und wenn, dann hatte es einen ernsten Grund. Aber mir war klar, dass er jetzt nicht darüber reden wollte.
    Meine Webcam konnte warten. Seit ein paar Tagen flackerte die winzige Lampe an meinem PC . Ich benutzte sie eigentlich nie, so wie ich auch nie ein Foto von mir verschickte oder irgendwo hochlud.
    Die Verabschiedung war kurz, ohne die endlosen Verzögerungen wie sonst, wenn er mich mit immer neuen Ideen und Bemerkungen und noch einer Frage oder dem hundertsten Link zu einer schrillen Seite im Netz bis tief in die Nacht am Bildschirm hielt. Es war auch spät genug, und ich war froh, als ich den Kopf aufs Kissen sinken ließ.

6
    Er verlor keine Zeit, als er die verlassene Fabrikhalle erreichte. Er warf das Paket über die Schulter, sie war so leicht, so leicht, vielleicht hatte sie auch noch ein bisschen abgenommen? Er trug sie hinein, richtete alles so her, wie er es sich schon lange ausgemalt hatte. Am Ende umrundete er sie noch einmal im Schein seiner Taschenlampe.
    «Warum wolltest du nicht auf mich hören?» Er neigte den Kopf zur Seite und stieß mit der Spitze seines Stiefels gegen ihre rechte Wade. Eine schlanke Wade, deren Muskeln man ansah, dass sie viele Stunden mit Jazzdance verbracht hatten.
    Die Plastiküberzieher, mit denen er das empfindliche Leder seiner Schuhe schützte, hatten den Farbton der Beschichtung eines Swimmingpools. Etwas zwischen Grün und Blau, grell, Farbe, zu viel Farbe und die falsche Farbe. Er musste nach einer besseren Farbe suchen, es konnte doch nicht sein, dass es diese Dinger nur in einer Farbe gab. Es wäre viel schöner, wenn er auf sie verzichten könnte, aber das wäre sehr dumm, und er war nicht dumm, nein, alle bestätigten das. Schon in der Schule, damals, keinen Zweifel hatte es gegeben, dass er schlau war, nicht nur schlau, er war ein intelligentes Bürschchen, schon immer, das hatten sie ihm zugestanden. Er hatte sich sogar aus der Sache im Waschraum rausgeredet, er hatte Monk abserviert, Monk, der vier Jahre älter gewesen war und der Boss.
    Der Unterschenkel des Mädchens stand in einem ungewöhnlichen Winkel von ihrem Oberschenkel ab. Er korrigierte es. Er mochte keine Unordnung.
    Sein plötzliches Lachen schreckte draußen die Tauben auf, die sich unter dem Vordach der Laderampe aneinanderdrängten. Das Flapsen der Flügel, das empörte Gurren drang durch die zertrümmerten Fenster in die Halle, aber keines der Biester wagte es, hinein ins Trockene zu fliegen. Sie flatterten ein paar Meter durch den Regen und sammelten sich in der Platane, die den ganzen Vorhof mit ihrer Rinde übersät hatte.
    Dieser Baum macht es richtig, dachte er. Wirft die alte Haut ab, wenn sie ihm nichts mehr bringt, und darunter kommt dann die saftige grüne neue Schale zum Vorschein.
    Erst jetzt bemerkte er, dass es wieder zu regnen begonnen hatte. Eine Windböe wehte ein paar Tropfen herein. Sie trafen ihn
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