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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Lichtjahre entfernt von allem, was mit dem Computer und dem Internet zu tun hatte; in unserem Flur stand noch ein Telefon mit Wählscheibe und Schnur. Aber ich wollte kein Risiko eingehen. Wenn Mama oder Papa in meinem Zimmer auftauchten, was sie selten wagten, jedenfalls nicht, ohne zu klopfen und meine Antwort abzuwarten, flimmerte immer hausaufgaben.de oder eines der Lernprogramme für Englisch-Vokabeln auf dem Bildschirm.
    «Denn es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski», antwortete Geronimo.
    Ich kicherte. Ich konnte sein Augenverdrehen sehen. Er hasste Gruppen wie 2 Raumwohnung.
    «Wo warst du?», gab ich ein.
    «Viel zu tun», kam zurück, «bist ja selbst noch nicht lange on.»
    Ich fragte mich, woher er das wissen konnte. Das Programm zeigte es nicht an, das wusste ich. Wir tickerten ein bisschen hin und her, aber ein Gespräch kam nicht in Gang. Irgendetwas musste passiert sein.
    Geronimo war vor ein paar Wochen aufgetaucht. Zuerst hatten wir ein paar Nachrichten auf SchülerVZ ausgetauscht, waren dann aber zu Chatattack 4 U gewechselt. Irgendwie hatte er sich von den anderen unterschieden, vor allem durch das, was er nicht machte. Er machte mich nicht an, seine zweite Frage war nicht die nach einem Foto oder meiner Telefonnummer gewesen. Manchmal schickte er mir Bilder, von verwunschenen Plätzen, die ich gerne besucht hätte.
    Eines hatte ich als Bildschirmhintergrund gespeichert: eine Nachtaufnahme vom Himmel über Berlin. Der Hintergrund war fast schwarz, in der Mitte dominierte die kreisrunde Mondkugel, vor deren silbriger Scheibe sich die Silhouette einer Frauengestalt, eine Statue aus dem neunzehnten Jahrhundert, abzeichnete. Fast wirkte dieser Schattenriss wie eine Schwarzweißaufnahme.
    Es sei eines seiner Lieblingsbilder, hatte er geschrieben, und ich hatte mich gewundert; für einen Jungen in seinem Alter war es ein ungewöhnlicher Geschmack, so romantisch. Er war einfach ungewöhnlich, anders.
    Sarah hatte sofort darauf getippt, dass er schwul sei. Jungs, mit denen man wie mit einer besten Freundin chatten könnte, seien garantiert schwul, es gebe keine Freundschaft zwischen Frauen und Männern, niemals, behauptete sie.
    Es war bisher auch nicht wie Freundschaft. Schon gar nicht wie Flirten. Ich hatte noch nie mit jemand so offen über die Probleme mit meinem Vater gesprochen. Für meinen Geschmack nahm Geronimo ihn viel zu oft in Schutz. Denk doch mal an ihn, versuch, dich in seine Lage zu versetzen, was fühlt er denn dabei!
    Ich wollte mich nicht in seine Lage versetzen. Ich wollte nicht fühlen wie er, um Gottes willen – nein, gerade um dessen willen nicht. Wie sehr solche Sprüche in einem steckten. Unsere ganze Familie hatte er dem Regime dieser Gemeinde unterworfen. Keine eigene Meinung war mehr erlaubt, alles wurde abgeklopft, ob es der Lehre entsprach, und im Internet hatte ich eine Seite gefunden, die sich sehr deutlich mit dieser Lehre auseinandersetzte. Leider wurden die
Brüder des Lichts
dort nicht als Sekte eingestuft, noch nicht und nur knapp nicht.
    «Biste wieder in einen Stall eingebrochen?», fragte ich.
    «Nope, sie haben das mit der alten Kohlenrutsche gecheckt.»
    «Aber das ist doch nicht der einzige Weg nach draußen?»
    «Stimmt.»
    Mehr kam nicht. Er lebte in einem Internat und hatte sich einer ziemlich entschiedenen Gruppe von Veganern angeschlossen, die alle paar Wochen durch Aktionen in Hühner-KZs oder Großschlachtereien Schlagzeilen machte; über einen der Einbrüche hatte sogar hier in der
Rundschau
ein Artikel gestanden.
    Er hatte mal durchscheinen lassen, dass seine Eltern ihn in diese Schule entsorgt hatten, so war sein eigener Ausdruck gewesen, entsorgt: «Wie einen Haufen Müll, den man zurücklässt, irgendwo.»
    Geronimo hielt mit nichts hinterm Berg. Irgendwie war es wohltuend, jemanden am anderen Ende zu haben, der sich nicht nur über die Bauchmuskeln von Werwolfdarstellern in Vampirfilmen oder neue Sonnenbrillenmodelle unterhalten wollte.
    Irgendetwas stimmte nicht mit ihm in der letzten Zeit, aber ich traute mich nicht zu fragen. Sonst pulsierte der Button, der seine Anwesenheit und die Bereitschaft zu tickern bekundete, im Chatattack 4 U-Fenster immer, jedenfalls nach der Essenszeit, die dort im Wohnheim so strikt eingehalten wurde.
    Wer um sechs Uhr abends nicht am Tisch saß und diesen eine halbe Stunde später mit vollem Bauch verlassen hatte, blieb hungrig oder musste sich von etwas ernähren, das er reingeschmuggelt hatte. Essen,
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