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An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)

An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)

Titel: An den Rändern der Zeit, Teil 2 (German Edition)
Autoren: Antje Ippensen
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Abschnitt A
     
    Die Nacht war viel dunkler als sonst. Hilflos fummelte der blinde Oi mit seinen großen klobigen Fingern an dem Augencomputer herum, den er um den Hals trug. Vergeblich. Er sah nur ein paar blasse Blitze und vage Schemen um sich herum, und dabei konnte er normalerweise ALLES damit sehen. Wenn das Gerät nicht kaputt war. Aber nun war es kaputt.
    Der Riese stand ratlos in der schmalen Gasse, die zur früheren Treibgutzone gehörte. Die Nacht war wirklich dunkel, und sie war feucht. Er ließ seine schaufelartigen Hände sinken; die unglaublich muskulösen Arme baumelten schlaff herab.
    Oi war, wenn er sich gerade aufrichtete, einschüchternde zwei Meter groß und so breit wie ein Kleiderschrank; sein mächtiger Brustkasten erinnerte an den eines Gorillas. Der völlig kahle Kopf wirkte viel zu klein im Vergleich zu seinem Riesenkörper … aber sein glattes Gesicht trug einen eher sanften Ausdruck, der vor allem durch die braunen, dabei leicht milchigen Hundeaugen hervorgerufen wurde.
    Als Oi ein zwei Jahre altes, dickes Kleinkind gewesen war, hatte sich ein winziger böser Wurm durch sein Gehirn gefressen, sein Augenlicht ausgelöscht und auch sonst noch so einigen Schaden angerichtet. So hatte man es ihm jedenfalls erklärt. Er stellte sich oft vor, dass dieser Wurm sich durch seinen Kopf wie durch einen Apfel hindurchgebohrt hatte, so dass ein seltsames Labyrinth aus Gängen und Schächten entstanden war, wo er seine Gedanken kreuz und quer hindurchschicken musste, bis sie endlich irgendwo in brauchbarer Form herauspurzelten … meistens aus dem Mund. Oi war keinesfalls dumm, aber seine Denkweise hatte etwas Wunderliches und Umständliches an sich, so dass die meisten Menschen rasch die Geduld mit ihm verloren. Der Hüne blieb aber meistens stumm. – Die Medizin der Augenwelt hatte es nicht geschafft, jenen Wurm aufzuhalten, ehe er sein Werk vollendet hatte … andererseits war es kein Problem, den Jungen mit einem dieser hochentwickelten tragbaren Augen-Computer auszustatten. Wodurch er sehen lernte wie jeder andere Mensch. Doch die Geräte waren megateuer, und genau darum lief Oi jetzt fast blind herum. Er wusste nicht, wie das Ding funktionierte, er konnte es nicht reparieren. Würde er jemanden finden, der ihm half, ohne eine riesige Menge an Goldchips dafür zu verlangen?
    Gelinde Panik regte sich in ihm, und er tastete sich vorwärts, einfach nur, um etwas zu tun. Tiefer und tiefer verschwand der blinde Riese im Labyrinth der ehemaligen Treibgutzone, die jetzt praktisch verlassen dalag. Auf seiner ziel- und sinnlosen Wanderung stieß er mehrmals gegen Baugerüste oder berührte ein paar Planken, mit denen alle Erdgeschossfenster vernagelt waren. Oi wusste, dass man die T-Zone evakuiert hatte und sanieren wollte. Wohin waren wohl all die Leute gebracht worden?
    Plötzlich hörte er ein Geräusch, das wie ein Weinen klang. Ja. Er war hier also doch nicht ganz allein. Zögernd ging er dem erbärmlichen Schniefen und Schluchzen nach und rief zaghaft: „Hallo?“
    Jetzt vernahm er ein Rascheln und Scheppern, als ob sich jemand aus einem Haufen Müll rasch aufrappelte.
    Oi runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. Wer auch immer das war, durfte nicht etwa vor ihm fliehen, weil er doch so groß war. Er wollte nicht wieder allein sein, auf gar keinen Fall. Mit aller Kraft mühte er sich ab, die richtigen Worte zu finden.
    „Warum weinst du?“, brachte er schließlich hervor.
    Zurzeit antwortete ihm nur erneutes Rascheln und leises Klirren, und dann verstummte das Wesen, und eine junge weibliche Stimme sagte mürrisch: „Weil’s mir Fun macht. Yeah, ich heule ab und zu aus reinem Spaßvergnügen. Warum auch nicht. Lässt du mich run away?“
    Oi konnte das Mädchen überhaupt nicht erkennen. Die Kleine musste sich in einer besonders finsteren Ecke befinden, in die das spärliche Licht der Straßenleuchtbögen nicht mehr hineinfiel. Er dachte über ihre letzte Frage nach. Und nebenbei kam ihm langsam die Erkenntnis, dass sie den alten massdataslang mit einem sonderbaren, kehligen Akzent sprach, so, als sei sie eigentlich eine andere Sprache gewöhnt. – Nein, sie fortlaufen lassen … das wollte er ja gerade nicht. Hilflos zerbrach er sich den Kopf.
    Dann war da ein grelles Aufblitzen vor ihm, das ihn erschreckte. Er taumelte, stürzte über einen rostigen Kanister, hörte ein leises Knirschen in seinem Augen-Comp, und es wurde endgültig ganz dunkel. Totale Nacht, keinerlei Sehvermögen
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