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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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Gedächtnis nach dem Ort.
    Ich war erstaunt, wie viel sie von dem behielt, was wir gelegentlich besprachen, wenn sie seine Hemden bügelte und ich auf dem abgewetzten Sofa im Bügelzimmer herumlag.
    «Königsberg», sagte ich.
    «Genau», sagte sie. «Komm schon rein, du erkältest dich.»
    Mein Vater trat einen Schritt zur Seite. Unsere Blicke verfingen sich für den Bruchteil einer Sekunde, als ich an ihm vorbeihuschte. Ich hauchte Mama einen Kuss auf die Stirn und beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen.

4
    Er war viel zu spät losgefahren, und der Unfall auf der A 3 hatte ihn Zeit gekostet, nur weil ein Stümper nicht in der Lage war, seinen Wohnwagen auf der Straße zu halten oder mit 180 Sachen den Berg runtergebrettert war. Jeder Affe wusste, dass es die Senke am Ende in sich hatte, vor allem bei Regen und Sturm, aber dieser Holländer hatte wahrscheinlich Gas gegeben, weil er an den Blitzern vorbei war, gedacht hatte, er sei in Sicherheit.
    Es war klar, er würde sie verpassen; selbst wenn er ordentlich Gas gab, alle Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierte, er würde es nicht schaffen.
    «Du bleibst ruhig», schrie er und schlug aufs Lenkrad, «bleib ruhig, du bist kein Idiot, du hast es zu sehr in die Länge gezogen, es ist nicht wichtig, nicht so wichtig, dass du es länger und länger ziehen musst.»
    Sie war nicht sein Mädchen gewesen. Punkt. Aus. Schluss. Das hatte er schon seit Wochen gewusst, aber einfach kein Ende gefunden. Verdammt, geahnt, er hatte es geahnt. Wissen war etwas anderes, aber jetzt wusste er es.
    Hinter ihm flammte das Fernlicht einer Limousine auf.
    «Arschloch, verdammtes Arschloch!», platzte es aus ihm heraus.
    Ein schneller Blick in den Rückspiegel, und er wusste alles, klar, Dauerblinker links, Pachtschein für die Überholspur, von hier bis München, fast schon auf dem Grünstreifen mit den breiten Schluffen, warte nur, wenn die Leitplanke dir die Alufelgen abwetzt, Vorsprung durch Technik, was? Hemd, steifer Kragen, wahrscheinlich das Einzige, was du noch steif kriegst, was? Jackett hinten am Haken, goldene Manschettenknöpfe, nicht die billigen Dinger aus Plastik, so wie alle ihre Hemden zuknöpften, und Freisprechanlage, sicher, ein paar Geschäfte machen, bei 180  Stundenkilometern; oder der Fotze, von der er gerade kam, noch mal ins Ohr sabbern. Er kannte diese Typen.
    Aber er beherrschte sich, obwohl seine Familienkutsche mehr unter der Haube hatte, als man von so einem Schweden erwarten sollte. Er tippte auch nicht die Bremse an, wie er es in seinem eigenen Auto getan hätte, um dem Affen einen hübschen Adrenalinstoß zu verpassen. Er setzte den Blinker, lauschte dem Klicken, das er verursachte, klick, einmal, klick, zweimal, klick, dreimal, und zog schnell auf die mittlere Spur. Der Audi A 8 rauschte schon an ihm vorbei, bevor auch nur alle vier Reifen des Kombis den weißen Streifen überquert hatten.
    «Wichser», schoss er ihm hinterher und wiederholte das Wort ein paarmal.
    Hinter Kassel tankte er und zahlte bar. Wenn es eben ging, tankte er nicht bei einer Tour, ansonsten zahlte er natürlich bar, er war kein Idiot. Er hatte alles im Griff, auch wenn es ihm zunehmend Sorgen bereitete, dass er so ausgerastet war. Warum hatte er die Kontrolle verloren, warum? Und warum hatte er sie nicht verbluten lassen? Woher der Drang, es wieder so zu tun, wie damals?
    Überhaupt, er hätte sie früher loswerden müssen, aber das hatten wir schon, ermahnte er sich, das hatten wir schon, hör auf mit diesen Gedanken. Er spürte die Wallungen in sich aufsteigen. Das war nicht gut.
    Auf dem Parkplatz packte er seine Thermoskanne und die Blechdose aus. Der Geruch von jungem Gouda und sauren Gurken wehte ihm entgegen, obwohl er gar keine auf die Brote gelegt hatte. Er fragte sich, warum selbstgeschmierte Brote nach ein paar Stunden diesen Muff entwickelten. Es erinnerte an Spüllappen, die man zu lange benutzte. Nicht mehr lange, und er hätte den Käse kaum von einer Cervelatwurst unterscheiden können, wenn er überhaupt jemals Wurst essen würde. Sämtliche Scheiße warfen sie in den Wurstbrei, sogar Reste von einem Kopftuch hatte man in einer Fleischwurst gefunden.
    Er biss von dem Graubrot ab und spülte mit einem Schluck Pfefferminztee nach. Er war immer noch heiß. Der Hersteller garantierte einen maximalen Temperaturverlust von fünf Grad in sechzehn Stunden.
    Ein Tramper kam auf ihn zu. Unrasiert, braune Locken, einen großen Rucksack auf dem Rücken, einen kleineren vorne
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