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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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hellwach.
    Der Regen prasselte nicht mehr auf das Wellblechdach des Schuppens. Der Versuch, mit einer Hand den Zipfel der Gardinen zu erreichen und sie ein paar Zentimeter aufzuziehen, misslang. Ich zog die Decke noch einmal bis zum Kinn. Im letzten Jahr hatte ich um diese Zeit nur noch unter einem Laken geschlafen, es hatte schon wochenlang eine Bullenhitze geherrscht.
    Alles war anders als im letzten Jahr.
    Mein Vater war immer streng gewesen, aber seit er seinen Job verloren hatte und fast jeden Tag für die Gemeinde arbeitete, war er unerträglich.
    Ich schlüpfte aus dem Bett, streifte ein paar von Mamas selbstgestrickten Socken über, dick und bunt, besser als Hausschuhe oder Schlappen, aber unglaublich hässlich. Im Haus war noch alles still. Unten im Flur durchwogte mich aber schon der Duft von frischem Kaffee, ein Geruch, der sich durch die Fingerspitzen bis in die Arme kribbelte, fast wie eingeschlafene Glieder, durch die das Blut wieder strömte.
    Mama war also schon auf den Beinen. Die Küchentür öffnete sich. «Herzchen, schon so früh?», fragte meine Mutter.
    Ich klappte die Sitzfläche der Eckbank auf und nahm eine der flauschigen Decken aus der Kiste. Wenn ich überhaupt eines Tages irgendetwas aus diesem Haus mitnehmen würde, war es dieses Möbelstück, das alt, abgestoßen und unförmig in der Ecke stand, in seinem Bauch die Decken, ein paar Kissen, die Spielesammlung, die schon total aus dem Leim ging.
    Von der Bank aus schaute man über den Garten hinaus in die Viehweide bis zu dem kleinen Bach, der von Schwarzerlen und Pappeln gesäumt wurde. Mit etwas Glück konnte man Eisvögel beim Fischen beobachten.
    «Du bist unser kleiner Eisvogel», hatte Mama oft gesagt, weil der rostrote Bauch, wie sie meinte, meiner Haarfarbe so ähnlich war und das türkisblaue Gefieder auf seinem Rücken schimmerte wie meine Augen.
    Mit vier oder fünf Jahren hatte ich einmal gesehen, wie ein Männchen sich von seinem Ast hinab ins Wasser stürzte. Ich hatte furchtbare Angst, er würde ertrinken, aber wenige Sekunden später durchbrach er die Oberfläche und saß wieder an seinem Platz. Der kleine Fisch in seinem Schnabel zappelte; nur kurz, weil der Eisvogel ihn dann auf den Ast schlug, bis er tot war, und ihn mit dem Kopf voran verschluckte.
    Da wollte ich kein kleiner Eisvogel mehr sein.
    Mama goss jedem von uns eine Tasse Kaffee ein. Sie nahm einen ersten kleinen Schluck, schwarz und heiß musste er für sie sein. Ich kippte viel Milch hinein und zwei Löffel Zucker.
    «Er macht sich Sorgen, Josie.»
    «Ja, um sich. Um den guten Ruf, um
seinen
guten Ruf.»
    «Du tust ihm unrecht. Seit sie den Jungen im Mursbucher Wäldchen gefunden haben, macht er sich –»
    «Mama, es hat nichts mit dem Jungen zu tun. Außerdem ist der in ein fremdes Auto gestiegen.»
    «Josie!»
    «Ich sag doch gar nicht, dass er selbst schuld war, sondern nur, dass es am hellen Tag vor den Augen der Leute passiert ist. Und wie gesagt: Es geht Papa nicht darum.»
    «Ach, Kind …», seufzte sie und stellte die Tasse, aus der sie nicht mehr als die ersten paar Schlucke getrunken hatte, auf den Tisch. Dann besann sie sich jedoch, stand auf, goss den Inhalt in die Spüle und wusch die Tasse aus.
    Ich wusste, dass sie ihn verteidigen würde, immer. Sie war lieb zu mir, tat im Zweifelsfall alles für mich, nur gegen ihn würde sie sich nie stellen. Die Ältesten der
Brüder des Lichts
hatten dafür gesorgt. Schon der Name war der blanke Hohn. Sie waren keine Brüder, und sie verbreiteten kein Licht. Dunkelstes Mittelalter, das war es, was sie wollten. Deswegen waren es auch keine Brüder und Schwestern des Lichts, sondern nur Brüder.
    «Züchtigung gehört zur Erziehung eines Kindes, nur wenn es die Konsequenzen seines Tuns am Leibe spürt, erkennt es den Ernst und die Unverrückbarkeit der Lehre», hatte ich einen von ihnen sagen hören. Hier in der Küche hatten sie gesessen, bei einem ihrer Hausbesuche.
    Ich legte den Arm um Mutters Schulter. Der Duft ihrer Lavendelseife, die Haare, jetzt grau, aber genauso störrisch wie eh und je, die knochigen Höcker ihres Schlüsselbeins, sie war schon immer mager gewesen, das krasse Gegenteil von meinen Kurven. Man musste doch aus ihr wieder die Frau machen können, an die ich mich zu erinnern glaubte, von der es Fotos gab, wie sie Arm in Arm mit ihrer Cousine aus Halle den Fall der Mauer feierte, wie sie die Schaukel auf dem Spielplatz anschob, wie sie Weihnachten mitsamt dem Baum umkippte, weil
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