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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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der Stern für die Spitze schief saß.
    Sie brauchte nur fortzugehen. Mit mir.
    «Mama, es gibt immer Alternativen», flüsterte ich. «Du musst nicht bei ihm –»
    Sie stieß mich weg. «Du weißt nicht, was du sagst. Es würde ihn umbringen.»
    Ich schaute ihr lange in die Augen. Alles Mögliche hatte ich erwartet. Er würde
sie
umbringen. Uns umbringen. Vielleicht sogar, dass sie ihn liebte, sie musste ihn irgendwann geliebt haben. Es würde ihn umbringen.
    «Er hat sich nichts mehr gewünscht als ein Kind, und als du gekommen bist, hatten wir die schönsten Jahre unseres Lebens.»
    Hatten. Sie waren wohl vorbei.
    «Aber warum behandelt er mich so?»
    Sie konnte mir nicht mehr antworten, vielleicht hätte es auch keine Antwort gegeben. Mein Vater betrat die Küche.
    «So früh schon auf?», fragte auch er.
    Er war bereits geduscht, hatte die nassen Haare nach hinten gekämmt. Sie waren mittlerweile fast komplett grau. Er trug eines der karierten Hemden aus Flanell, wie immer, wenn er unter der Woche in das Gemeindezentrum ging. «Haben wohl alle nicht gut geschlafen.»
    «Kaffee?», fragte ich.
    «Gerne.»
    Ich goss ihm eine Tasse ein und stellte sie auf den Küchentisch.
    Er fummelte seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und zog zwei große Scheine heraus. «Für die Klassenfahrt», brummelte er kaum verständlich. «Ich decke demnächst das Dach des Gemeindehauses neu und … na ja, der Vorstand … so eine Art Aufwandsentschädigung.»
    Das Geld legte er auf den Tisch, dann nahm er den Kaffee und ging hinaus in den Garten. Wochenlang hatte er sich strikt geweigert, mir das Geld zu geben. Nicht weil er es nicht hatte, sondern weil er verhindern wollte, dass ich mitfahre, davon war ich jedenfalls fest überzeugt gewesen. Vielleicht hatte ich mich getäuscht.

11 . August 1978
    Es war nicht sein Fehler. Er hatte alles richtig gemacht: der grüne Wartburg mit dem Nummernschild IJF 7 – 06 , einsteigen, auf den Rücksitz, vor dem Einsteigen herumdrehen und winken, so tun, als würde er sich verabschieden. Alles musste ganz harmlos aussehen, das hatte er verstanden, er war nicht dumm, er konnte sich Dinge merken, auch wenn es ihm in der Schule schwerfiel.
    Nach dem Mittagessen, wenn alle geschlafen haben, nicht vorher, auf keinen Fall, bei der Mittagsruhe würden sie sofort merken, dass seine Pritsche leer war, dann würde einer fragen, sie würden suchen. Papa hatte es ihm eingeschärft, und er hatte es immer wieder und wieder aufgesagt, bis er alles auswendig konnte, besser auswendig als die blöden Lieder von Frau Thulheim, die er sich nie merken konnte, die Töne nicht und auch die Zeilen. Jetzt fiel ihm eins ein, und er summte. Von Friede auf der Erde handelte es, Friede in der Stadt und Friede für den Roten Platz und für eine Fahne, die brennt.
    «Sei still», sagte die Frau. Sie war immer noch so unfreundlich. Vorher hatte sie «Setz dich» und «Beine ruhig» gesagt, sobald er ein bisschen mit ihnen geschlenkert hatte.
    Beide Knie waren von einer braunroten Kruste überzogen, mit kleinen Stückchen Rollsplitt dazwischen. Es tat gar nicht weh, aber wie sollte er bloß die Steinchen aus der Wunde herausbekommen, vielleicht wuchsen sie ein, unter dem Schorf, dann hatte er Knie wie Streuselkuchen. Am linken Bein kroch eine rote Schlange fast bis zum Knöchel, die andere Seite hatte nicht so geblutet. Er hatte versucht abzuhauen, als der Mann mit dem gelben Pulli und die Frau mit der Sonnenbrille hinter ihm her waren.
    Er war nicht schnell genug gelaufen. Er war hochgegangen.
    «Wenn wir hochgehen, dann gnade uns Gott!», hatte Papa gesagt, aber Papa und Mama waren nicht hochgegangen, vielleicht, er wusste es nicht, sie hatten ja gesagt, dass sie erst wüssten, ob alles gutgegangen sei, wenn sie sich drüben wieder in die Arme nähmen, aber das ging jetzt nicht, denn er war hochgegangen, das hatte er kapiert, der Mann sollte ihn zu einem anderen Auto bringen, nach Berlin, aber sie hatten den Wartburg angehalten, noch bevor er vom Parkplatz runter war.
    «Hau ab», hatte der Mann aus dem Wartburg gerufen, und er war gelaufen, gelaufen, aber nicht schnell genug oder zu schnell, und deshalb war er auf die Knie gefallen.
    Wenn er doch wenigstens seine Umhängetasche mitgenommen hätte, keiner hatte eine mit dem Minol-Vogel darauf, die waren nur für ganz wenige Leute gemacht worden, und Papa hatte Beziehungen, und trotzdem wollte Papa rüber.
    Er hatte alles richtig gemacht. Erst, wenn alle zum Strand
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