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Unsichtbare Blicke

Unsichtbare Blicke

Titel: Unsichtbare Blicke
Autoren: Frank Maria Reifenberg
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auf dem Bauch, an der Seite baumelten eine Isomatte und zwei Tassen aus Aluminium. Ob er auf dem Heimweg sei, wollte der Kerl wissen, nein, und wenn, ich würde einen verlausten Typ wie dich nicht mitnehmen! Aber das sagte er nicht.
    Etwas von dem heißen Tee tropfte auf seine Hand; er hatte die Kanne nicht ordentlich verschlossen, maximal fünf Grad in sechzehn Stunden, das bedeutete, mindestens 75  Grad, auf seiner Handfläche, aber er beherrschte sich, das war wichtig. Beherrschung war wichtig.
    Keine Miene verzog er und entschuldigte sich bei dem Tramper, dem schmuddeligen Nichtsnutz, freundlich war er und erklärte ihm, dass das Auto nur von einem Freund geliehen sei, er führe nach Süden, fast entgegengesetzte Richtung, habe nur kurz hier einen Schlenker über die Raststätte gemacht, den Freund abgesetzt, der arbeite hier.
    Er lächelte den Typ an, zog die Tür zu und fuhr los.
    Er war bisher noch nie angesprochen worden. Keiner hatte ihn bisher angesprochen. Beim nächsten Mal würde er keine Pause machen.
    Der Gedanke war falsch. Es gab kein nächstes Mal.
    Das nächste Mädchen war die Richtige, und er würde sie nicht wegbringen müssen. Diese würde bei ihnen bleiben, alles würde seine Richtigkeit haben, endlich. Es gab keinen Zweifel daran. Bei den anderen hatte er Zweifel, da hatte er es sich gewünscht und noch nicht gewusst, wie er eins und eins zusammenzählen musste. Aber die Testergebnisse hatten ihn eines Besseren belehrt.
    Er drückte die Play-Taste am CD -Player.
    «Uuuuuaaaah», schwebte die Stimme der Frau durch den Wagen. Bambambaram bam, bollerte ein Instrument, dumm, dumm das Schlagzeug, irgendwann ein Glockenspiel, alles verlogen, sie machten es am Computer, das wusste er. Die Sängerin war nicht mehr jung, aber die Stimme war doch die eines Mädchens, in allen Liedern. Sie saß auf dem Cover neben einem Mann, der dem Tramper ähnlich sah. Eine Sonne leuchtete zwischen den beiden.
    «Wir sind alle gut und schön», sang sie, «so wie wir sind, wir sind alle Energie, die keiner verliert oder gewinnt, wir bewegen die Welt, dieser Weg hört niemals auf, wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein.» Dann wieder das Schweben. «Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein. Ja. Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein. Ja.»
    Bambababambambambabaram. Er stimmte in den Refrain ein. Lauthals sang er mit. «Never say never, sag niemals nie, denn es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski …»
    Er wollte losfahren, überlegte es sich aber doch noch einmal. Er kannte die Raststätte, sie hatte einen offenen WLAN -Zugang. Er holte das Laptop aus der Tasche.

5
    Ich tickerte mit ein paar Freundinnen, oder was man im Netz Freundinnen nannte. Den Computer hatte ich meinem Vater mit ziemlich viel Mühe und der Unterstützung unseres Informatiklehrers abgeschwatzt. Ein Freund von Sarah hatte die Kindersicherung mit links geknackt, obwohl Maik Rotter, der Computerhändler, meinen Eltern hoch und heilig versprochen hatte, ihr
Töchterchen
, wie er sich ausdrückte, käme damit auf keine Website, die ihren zarten
Äuglein
schadete. Dann hatte er gekichert, wie ich es nur von den Jungs aus der Schule kannte, wenn sie bekifft waren.
    Der lange Typ schadete auf jeden Fall meinen Äuglein, so hässlich und abgemagert, wie er war. Rotters geschorener Kopf glich einem Totenschädel. Ich hatte den Mund gehalten, um bloß nicht irgendeinen Anlass zu geben, der den Kauf des Geräts gefährdete.
    Sarah war nicht online. Eigentlich verrückt, wir hätten uns fast Lichtzeichen mit der Nachttischlampe geben können. Im Winter konnte man in sternklaren Nächten sogar die Außenbeleuchtung des Hofes der Trautmanns sehen.
    Ich schaute auf Chatattack 4 U, ob wenigstens Geronimo da war, aber er tauchte erst spät, weit nach Mitternacht auf. Eigentlich schlief ich um diese Zeit, an diesem Abend bekam ich jedoch kein Auge zu. Frau Sudermann, Bugsies Stunt mit dem Bus, Felix – alles polterte lautstark durch meinen Kopf.
    «Alles safe bei dir?», flimmerte die Nachricht in einem kleinen Fenster am oberen rechten Rand des Bildschirms auf.
    Das war fast immer der erste Satz, wenn wir chatteten. Als Antwort musste eine Textzeile aus einem bestimmten Lied kommen, damit wir sicher sein konnten, wer am anderen Ende vor dem Monitor saß.
    «Sag niemals nie», tippte ich ein.
    Geronimo hatte mir beigebracht, was ich tun musste, um alle Hinweise auf meine Tätigkeiten auf dem Laptop zu verwischen, und meine Eltern waren
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