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Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Das Licht der Toten: Roman (German Edition)

Titel: Das Licht der Toten: Roman (German Edition)
Autoren: Cyrus Darbandi
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PROLOG
    Du warst schon einmal hier in dieser Stadt, in einem anderen Körper, in einem anderen Leben; eingeschlossen wie ein Insekt in Bernstein ist die Zeit für dich jedoch nicht vergangen.
    Hier oben auf dem Dach lockt dich der Wind, zerrt und zieht an dir wie ein ungeduldiger Spielkamerad, flüstert dir zu, dass hinter der Kante und über den Rand hinaus Trost, Freiheit, Vergessen warten.
    Dein Körper wird sich von dir trennen, unnützer Ballast all die Jahre lang, du wirst ihn über Bord werfen wie einen Seesack, in dem all der Schmerz, die Scham, die Angst verschnürt sind.
    Du stellst dich an den Rand, und in den wenigen Schritten von einer Kante zur anderen entledigst du dich deiner Geschichte: zuletzt nicht mehr als ein Haufen abgetragener Klamotten, an denen der üble Geruch deiner Kindheit haftet.
    Blickst hinaus in die trostlose Weite und hinunter in den tröstlichen Abgrund, vergewisserst dich, dass dein Ende nicht auch das eines anderen bedeutet.
    Du hast keine Angst vor dem Tod – du bist schon einmal gestorben, und dass du gerettet wurdest, war nicht dein Verdienst; all die Jahre, die darauf folgten, erschienen dir immer falsch, so als hättest du dir die unvorhergesehene Lebenszeit erschwindelt, zumindest aber nicht verdient.
    Ein schon zu Lebzeiten Verlorener.
    Immerhin: Du hast lange durchgehalten, viel länger, als du glaubtest, es zu können; ein Mann voller Verstecke, dunkler Winkel, verbotener Räume, ein immerzu maskierter Mann.
    Dieser Mann stand morgens auf, küsste seine Frau, weckte dieKinder, duschte, kochte Kaffee, briet Eier, las Zeitung, brachte die Kinder zur Schule, fuhr zur Arbeit, arbeitete, funktionierte, fuhr nach Hause, redete über den Tag, über dieses und jenes, sammelte, sortierte Worte, achtete auf seinen Zungenschlag, tat interessiert, aufmerksam. Aber niemand wird jemals wissen, wie viel Kraft es ihn kostete, in der Sonne zu stehen, unter einem blauen Himmel, an einem Strand mit den Menschen, die ihn lieben, und dabei die Hände in den Taschen zu Fäusten zu ballen, mit dem dringenden Verlangen, sie sich in den Rachen zu stopfen, um die Schreie des Kindes dort drinnen zu ersticken.
    Oder in der Rushhour panisch auszuscheren, in eine Seitenstraße hinein oder unter eine zugemüllte Autobahnbrücke zu fliehen, weil ein plötzlicher Weinkrampf über ihn hereinbrach, seine Sicht verschleierte und seine Seele verschattete.
    Ein Mann, der sein Leben lang damit verbrachte, sich selbst zu vergessen, der nachts auf die sich an den Felsen brechenden Wellen sah und seinen Körper dort hineinwünschte, und über ihm zogen Sturmwolken, in denen Blitze wie grelle Schnappschüsse aus der Hölle aufleuchteten über dem Pazifik, und Schatten krochen aus der Dunkelheit, vermischten sich mit dem Schatten, den er selbst auf der Veranda seines Hauses warf, und darin starrten glühende Augen auf das Kind, das sich zitternd und geschunden in ihm verbarg.
    Erinnerungen wie deine sind Terroristen der Seele, es ist ihnen egal, wo und wann sie zuschlagen.
    Wer wird um dich trauern?
    Deine Familie am anderen Ende der Welt. Deine Familie – und sie zu gründen, war deine Entscheidung. Nach Australien zu gehen – deine Entscheidung.
    Wie viel von dem, was wir erleben, ist von uns gewählt – und wie viel geschieht uns einfach? Stand das, was dir als Kind geschah, zwischen den Sternen geschrieben, oder war es nur die grauenhafte Laune eines bösen Gottes, ein Zufall, Pech?
    Da war ein wenig Glück gewesen – eine vergleichsweise unverschämt mickrige Entschädigung für das Grauen, Brotkrumen auf verbranntem Boden.
    Zwei Töchter, jetzt erwachsen, jetzt außer Haus, und deine dich liebende Frau, die sich nie über deine depressive Distanziertheit, die sie irrtümlich anfangs als eine Art linkische Schüchternheit missverstand, beschwerte.
    Sie werden um dich weinen, zumindest eine Zeitlang.
    Aber du machst dir keine Illusionen.
    Der Winter wird gehen, der Sommer kommen, und mit ihm der von ihrer Seite aus gehegte Wunsch, weiterleben zu dürfen. Was von dir bleiben wird, ist am Ende nicht mehr als dein Gesicht hinter dem dünnen Glas eines Bilderrahmens.
    Und Fragen.
    Manchmal endet es mit Fragen, die unbeantwortet bleiben.
    Wer bleibt zurück?
    Du denkst an Lydia. An eure letzte Begegnung, gestern.
    Als sie die Entscheidung in deinen Augen las.
    In deinen Augen lag die Wahrheit in einem scharfen, schrecklich grellen Licht, während du gleichzeitig schamlos logst. Wie gut es dir ging, wie stark du
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