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Und weg bist du (German Edition)

Und weg bist du (German Edition)

Titel: Und weg bist du (German Edition)
Autoren: Kate Kae Myers
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DER ANFANG
    Das Leben ist eine Aneinanderreihung flacher Atemzüge. Und mit jedem Atemzug kann sich alles ändern .
    Einatmen.
    Mit meinem Bruder Jack die letzten Cornflakes essen. Von zu Hause abhauen.
    Ausatmen.
    Beim Abwaschen herumalbern. Einen Schuss abfeuern.
    Einatmen.
    In einer langweiligen Geschichtsstunde sitzen. Vom Schulpsychologen aus der Klasse geholt werden. Erfahren, was mit meinem Bruder geschehen ist.
    Ausatmen.
    All das in einem flachen Atemzug.
    Die Schüler der Troy-Tech-Highschool hasteten zu ihren Autos auf dem Schulparkplatz. Jeder wollte der Erste auf der Straße sein, aber vor allem wollten sie vor den Bussen losfahren. Weil Freitag war und die Frühjahrsferien bevorstanden, hatte man das Gefühl, sie würden aus dem Gefängnis entlassen werden. Zum Glück hatte mich der Schulpsychologe ein paar Minuten früher gehen lassen. Nur drei Autos waren vor meinem zerbeulten kleinen Honda Civic. Langsam rollte ich der Freiheit entgegen, nach der ich mich sehnte wie alle anderen, vielleicht sogar mehr.
    Mein Telefon summte und ich las die SMS. Sie war von Brooke, die wissen wollte, ob ich mit zum Zelten käme – mit ein paar Freunden Würstchen und Marshmallows grillen, Gruselgeschichten erzählen, versuchen sich gegenseitig zum Lachen zu bringen. Würde ich je wieder lachen können? Ich konnte es mir nicht vorstellen.
    Wenn Jack noch am Leben gewesen wäre, hätten wir beide mitfahren können. Doch mein Zwillingsbruder war vor drei Wochen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem begleitete mich der Schmerz, ihn für immer verloren zu haben, überallhin. Wie einen Rucksack schleppte ich ihn mit mir herum und bei jedem Schritt schlug er mir rhythmisch mitten ins Herz.
    Ich hatte keine Lust, zelten zu gehen, doch die Vorstellung, die ganze Woche bei meiner Pflegefamilie abzuhängen, war noch schlimmer. In dem Haus würde ich ständig an Jack erinnert werden, seine Abwesenheit wäre allgegenwärtig. Das Auto vor mir bog auf die Straße und ich folgte ihm entschlossen, ohne das Stoppschild zu beachten. Zehn Minuten später fuhr ich in die Einfahrt des großen, zweigeschossigen Hauses, in dem mein Bruder und ich die letzten drei Jahre gelebt hatten. Beim Eintreten wurde ich von den Geräuschen und dem Geklapper einer Fernseh-Kochshow empfangen und vom Lärm der Kleinen, die mit dem Hund tobten. Es roch nach Hafer-Brownies. Jack hat Brownies geliebt.
    »Bist du es, Jocelyn?«, rief meine Pflegemutter aus der Küche.
    Bevor ich antworten konnte, schaute Marilyn bereits mit einem Topflappen in der einen und einem Wender in der anderen Hand um die Ecke. Sie blies sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Hast du entschieden, ob du mit zum Zelten fahren willst?«
    »Ja, ich glaube, ich fahre mit.«
    »Gut.« Eine Eieruhr piepte und sie verschwand wieder in der Küche. Über die Schulter rief sie mir noch zu: »Du hast übrigens einen Brief bekommen. Er liegt in deinem Zimmer.«
    Ich holte einen Schlafsack aus dem Schrank im Flur und machte mich auf den Weg nach oben. In meinem Zimmer ließ ich ihn auf den Boden fallen. Mit den Gedanken war ich bei der Zelttour – was ich einpacken musste, was ich anziehen würde, worüber ich auf keinen Fall reden wollte. Dann fiel mein Blick auf den Brief. Wahrscheinlich wieder Infomaterial von einem College, dachte ich.
    Ich nahm ihn und betrachtete ihn genauer. Wortlos öffnete sich mein Mund und ein Zittern breitete sich in meinem Körper aus, wie ein Nachbeben, das auf eine schwere Erschütterung folgt.
    Der Brief war von Jack.

eins
MARATHON
    Wann immer möglich hielt ich mich im Schatten der Gebäude. Meine Schuhsohlen schlugen beim Rennen einen verzweifelten Rhythmus auf den nassen Gehsteig: Ich muss zu ihm … zu ihm … zu ihm … In der Ferne brummten Fahrzeugmotoren. Ich hastete durch Seitenstraßen und über ungeschützte Fußgängerüberwege. Keuchend erreichte ich die Arsenal Street, die in den Public Square von Watertown mündete. Die Regentropfen bildeten im Schein der Straßenlaternen kleine Lichtkreise, die mich an Van Goghs Sternennacht erinnerten – das Lieblingsbild meines Bruders Jack. Zu jeder anderen Zeit hätte ich die fast unwirkliche Schönheit wahrgenommen, doch in dem Moment konnte ich lediglich denken: Es ist viel zu hell hier.
    Vom Regen bis auf die Haut durchnässt, wurde ich immer schneller, während ich die verlaufende Wimperntusche von meinen Augen wegblinzelte. An einer Bankfiliale fiel mein Blick auf die Uhrzeit: 22:07.
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