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Todespakt

Todespakt

Titel: Todespakt
Autoren: Michael Hübner
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Prolog
     
     
    Die Dämmerung war bereits fortgeschritten, als die Touristengruppe gegen neun Uhr den Kern des historischen Stadtteils Sayn erreichte. Die an beiden Seiten von Fachwerkhäusern gesäumte Gasse dehnte sich hier zu ihrer breitesten Stelle aus. Der Stadtführer – ein Mann um die fünfzig, der das mittelalterliche Gewand eines Nachtwächters trug – versammelte die Teilnehmer der Gruppe um die Mitte des Platzes. Dort stand ein überdachtes, am Fuße eingezäuntes Kreuz, an dem der gepeinigte Körper Jesu Christi in Gestalt einer kunstvollen Holzfigur prangte.
    »Hier beleuchten wir eines der dunkelsten Kapitel unserer historischen Stadt«, verkündete er mit kräftiger Stimme. Dabei hob er die Laterne an, deren flackerndes Kerzenlicht unheimliche Schattenspiele auf dem Kreuz verursachte. Augenblicklich kehrte Ruhe in die Gruppe ein.
    »Als gegen Anfang des siebzehnten Jahrhunderts erstmals im nahegelegenen Koblenz die Pest ausbrach, wütete sie so verheerend, dass die Friedhöfe bald zu klein wurden. Durch Handelsrouten verbreitete sich die Seuche rasend schnell, sodass schon bald darauf auch hier die ersten Opfer zu beklagen waren. Aus Angst vor Ansteckung wurden die Leichen auf unchristliche Weise ohne Särge in Massengräbern bestattet. Eines dieser Gräber befand sich hier, an dieser Stelle.« Er deutete mit der Laterne in Richtung des Kreuzes. »Erst im Jahr 1783 errichteten die Bewohner der Stadt dieses Bußkreuz, in Angedenken der Pesttoten, die etwa 120 Jahre zuvor auf diesem Platz begraben wurden.«
    Blitzlichter durchbrachen die beginnende Dunkelheit und bekundeten das rege Interesse der Besucher. Lediglich ein sechzehnjähriger Junge spielte gelangweilt mit seinem Handy herum. Sein demonstratives Desinteresse zeugte davon, dass seine Eltern ihn zur Teilnahme an dieser Stadtführung gezwungen hatten, wodurch er an diesem Sonntagabend seine Lieblingsserie im Fernsehen versäumte.
    »Etwa gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erreichte die Pest ihren Höhepunkt«, fuhr der Stadtführer fort. »Ein ortsansässiger Pater betreute als einziger Geistlicher die Erkrankten bis zu deren Tod und hielt auf diesem Platz täglich unter freiem Himmel die heilige Messe. Zu dieser Zeit grassierte die Seuche fast in jedem Haus, sodass der Pater in seiner Not die verbliebenen Bürger dazu aufrief, dem Pestheiligen Sebastian zu Ehren eine Kapelle zu errichten. Nachdem der Pater als eines der letzten Opfer gestorben war, folgten die Überlebenden seinem Aufruf und bauten diese Pestkapelle.«
    Der Stadtführer schwenkte die Laterne herum und deutete mit der altertümlichen Stabwaffe, die er in der anderen Hand hielt, in Richtung einer steinernen Kapelle. Ihr steiles Dach erhob sich auf der hinteren Seite des Platzes und erreichte nur etwa zwei Drittel der Höhe der Wohnhäuser, vor der sie errichtet war. In der Mitte, kurz unterhalb des Dachfirstes, war eine Aussparung in Form eines gleichschenkligen Kreuzes in die weiße Fassade eingelassen.
    »Seit dem Jahr 1666 wird von den Einwohnern hier der 20. Januar, der Tag des heiligen Sebastian, festlich begangen, indem sich in der Kapelle die Einheimischen und Besucher versammeln, um das Ende der schrecklichen Seuche …«
    Der Stadtführer stockte, als er auf die nach oben hin abgerundete Holztür der Kapelle blickte. Die Straßenleuchten erfassten diesen Teil nur spärlich, dennoch konnte er deutlich erkennen, dass dort an der Tür etwas angebracht war.
    »… zu feiern und der Opfer zu gedenken«, vollendete er den Satz, um seine Unsicherheit zu überspielen, als er erkannte, was dort an der Tür hing. Auch einige Teilnehmer der Gruppe waren darauf aufmerksam geworden.
    »Ist das ein Vogel?«, fragte eine ältere Frau mit dunkelblonden Haaren, die sie streng zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.
    Zögerlich trat der Stadtführer auf die Tür zu und betrachtete den toten Raben, der dort angebracht war. Erneut blitzten hinter ihm die Lichter der Kameras auf.
    »Es handelt sich doch hoffentlich um ein ausgestopftes Exemplar«, bemerkte die Frau empört.
    »Beruhige dich, Mutter«, murmelte der Jugendliche mit dem Handy. »Das ist doch nur ein Teil dieser öden Führung.«
    Augenblicklich bekam er von dem Mann neben ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Du könntest ruhig ein wenig mehr Interesse an der Sache zeigen«, mahnte er seinen Sohn. »Schließlich ist das auch ein Teil deiner Geschichte.« Erbost deutete er auf das Mobiltelefon in der Hand des Jungen.
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