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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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droht sogar jetzt noch der Tod, falls wir von den Schrecken erzählen, die wir durchlitten haben. Deshalb vertrauen wir uns dir an, jener Person, die diese Kapsel mit Erinnerungen irgendwann in der Zukunft findet. Wir vertrauen dir die Wahrheit an. Denn was du hier entdeckst, zeugt genau davon – von der Wahrheit.
Andrius, mein Ehemann, sagt, dass das Böse herrschen wird, bis sich gute Männer und Frauen zum Handeln entschließen. Ich glaube ihm. Diese Aufzeichnungen sollen umfassend Zeugnis ablegen. Sie sollen in einer Welt sprechen, in der wir zum Verstummen gebracht worden sind. Vielleicht wirst du erschrocken oder entsetzt sein, aber das liegt nicht in meiner Absicht. Stattdessen hoffe ich inständig, dass die in diesem Glas enthaltenen Aufzeichnungen deine tiefste menschliche Anteilnahme wecken. Ich hoffe, dass sie dich veranlassen, etwas zu unternehmen, anderen davon zu erzählen. Nur so können wir sicherstellen, dass sich etwas so Unheilvolles nicht wiederholt.
Mit besten Wünschen
Frau Lina Arvydas
9. Juli 1954, Kaunas

Nachbemerkung der Autorin
»Mitten im tiefen Winter wurde mir endlich bewusst,
dass ich einen unbesiegbaren Sommer in mir trug.«
ALBERT CAMUS
    1939 besetzte die Sowjetunion die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland. Bald darauf erstellte der Kreml Listen mit Personen, denen man eine antisowjetische Gesinnung unterstellte. Sie sollten erschossen, ins Gefängnis geworfen oder nach Sibirien in die Sklaverei deportiert werden. Ärzte, Anwälte, Lehrer, Militärangehörige, Schriftsteller, Musiker, Geschäftsleute, bildende Künstler, ja sogar Bibliothekare wurden als sowjetfeindlich eingestuft und kamen auf die Listen, die die Grundlage für eine regelrechte Ausrottung bildeten. Die ersten Deportationen fanden am 14. Juni 1941 statt.
    Mein Vater ist der Sohn eines litauischen Offiziers. Wie Joana floh er mit seinen Eltern über Deutschland in Flüchtlingslager. Wie Lina wurden viele seiner Angehörigen deportiert und eingesperrt. Die Deportierten mussten Grauenhaftes erdulden. Währenddessen verwüsteten die Sowjets ihre Heimat, brannten Bibliotheken nieder und zerstörten Kirchen. Die baltischen Staaten, zwischen Sowjets und Nazis in der Falle sitzend und von der Welt vergessen, verschwanden unbemerkt von der Landkarte.
    Ich bin zwei Mal nach Litauen gereist, um für diesen Roman zu recherchieren. Ich habe mit Familienangehörigen, Überlebenden der Deportationen, Überlebenden der Lager des Gulag-Systems, mit Psychologen, Historikern und Regierungsbeamten gesprochen. Viele Begebenheiten und Situationen in diesem Roman entsprechen dem, was mir von den Überlebenden und ihren Familien geschildert wurde. Es handelt sich um Erfahrungen, wie sie zahllose Deportierte überall in Sibirien gemacht haben. Die Protagonisten meiner Geschichte sind allerdings frei erfunden – bis auf Doktor Samodurow. Er traf gerade noch rechtzeitig in der Arktis ein, um viele Leben zu retten.
    Die Überlebenden verbrachten zehn bis fünfzehn Jahre in Sibirien. Als sie gegen Mitte der fünfziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in ihre Heimat zurückkehrten, mussten sie feststellen, dass die Sowjets in ihren Häusern wohnten, sich all ihrer Besitztümer erfreuten und in manchen Fällen sogar ihre Namen angenommen hatten. Sie hatten alles verloren. Die Rückkehrer wurden wie Verbrecher behandelt. Sie mussten in abgetrennten Stadtvierteln leben und wurden ständig vom KGB, der Nachfolgeorganisation des NKWD, überwacht. Wenn sie von ihren Erfahrungen erzählten, bedeutete das sofortige Verhaftung oder neuerliche Deportation nach Sibirien. Aus diesem Grund kamen die Schrecken, die sie erlebt hatten, nie an das Licht. Sie waren das grausige, kollektive Geheimnis von Millionen Menschen.
    Manche der einstigen Deportierten heirateten wie Andrius und Lina und fanden Trost in wissenden Blicken oder Geflüster, wenn sie spätabends im Bett lagen. Wunderbare Kinder wie Jonas und Janina wuchsen in Zwangsarbeitslagern auf und kehrten erst als Erwachsene nach Litauen zurück. Unzählige Mütter und Ehefrauen wie Elena fanden den Tod. Mutige Seelen, die befürchteten, dass die Wahrheit nie an den Tag kommen würde, vergruben Tagebücher und Zeichnungen in baltischer Erde, obwohl sie wussten, dass ihnen der Tod drohte, wenn der KGB ihre Aufzeichnungen fand. Wie Lina drückten viele ihre Gefühle und Ängste in Kunst und Musik aus, denn dies war die einzige Möglichkeit, sich mitzuteilen und die Heimat im Herzen zu
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