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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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erwarten allen Ernstes, dass ich abreise und behaupte, alles sei bestens und in schönster Ordnung.«
    Seine Hand schoss auf mich zu. Ich riss schützend die Hände hoch.
    »Dr. Samodurow.« Er wollte mir nur die Hand geben. Ich starrte sie an, verblüfft über diese Respektsbezeugung.
    Wir arbeiteten unter seiner Aufsicht. An diesem Tag aß jeder eine Schale Erbsensuppe und ein halbes Kilo Fisch. Er half uns, einen Fischvorrat für die nächsten Stürme anzulegen und einen Friedhof für die über hundert Toten zu planen. Unter ihnen war auch Herr Lukas. Er war erfroren. Der Arzt sorgte dafür, dass uns Ewenken halfen, eingeborene Jäger und Fischer, die keine dreißig Kilometer weit weg lebten. Sie kamen mit Hundeschlitten und brachten uns Mäntel, Stiefel und Vorräte.
    Nach zehn Tagen musste er aufbrechen. Es gebe noch mehr Lager mit notleidenden Deportierten, sagte er. Ich übergab ihm alle Briefe, die ich an Andrius geschrieben hatte, und er versprach, sie abzuschicken.
    »Wo ist dein Vater?«, fragte er.
    »Er ist in einem Gefängnis in Krasnojarsk umgekommen.«
    »Woher weißt du das?«
    »Iwanow hat es meiner Mutter erzählt.«
    »Iwanow? Hm …«, sagte der Arzt kopfschüttelnd.
    »Glauben Sie, dass er gelogen hat?«, fragte ich sofort.
    »Oh, ich weiß nicht, Lina. Ich habe viele Gefängnisse und Lager besucht. Sie waren zwar nicht so entlegen wie dieses, aber es gibt Hunderttausende Menschen. Man hat mir erzählt, dass ein berühmter Akkordeonspieler erschossen wurde, aber ein paar Monate später bin ich ihm in einem Gefängnis begegnet.«
    Mein Herz tat einen Satz. »Genau das habe ich zu meiner Mutter gesagt. Vielleicht hat Iwanow sich geirrt!«
    »Ja, vielleicht, Lina. Sagen wir es so: Ich bin inzwischen ziemlich vielen totgesagten Menschen begegnet.«
    Ich nickte lächelnd, denn ich konnte die Hoffnung nicht verbergen, die seine Worte in mir geweckt hatten.
    »Wie haben Sie uns gefunden, Dr. Samodurow?«, fragte ich als Letztes.
    »Nikolai Kretzky«, erwiderte er nur.

85
    Jonas erholte sich langsam. Janina konnte wieder sprechen. Wir begruben Herrn Lukas. Ich klammerte mich an die Geschichte vom Akkordeonspieler und stellte mir vor, dass meine Zeichnungen in Papas Hände gelangten.
    Ich zeichnete immer mehr und hoffte, im nächsten Frühling eine Nachricht abschicken zu können.
    »Du hast erzählt, dass die Ewenken dem Arzt geholfen haben«, sagte Jonas. »Vielleicht helfen sie uns ja auch. Klingt, als hätten sie viele Vorräte.«
    Ja. Sie würden uns vielleicht helfen.
    Ich hatte einen immer wiederkehrenden Traum: Im Lager kam eine männliche Gestalt durch das Gestöber von Eis und Schnee auf mich zu. Ich wachte jedes Mal auf, bevor ich das Gesicht erkennen konnte, meinte aber, einmal Papas Stimme gehört zu haben.
»Welches unvernünftige Mädchen steht denn im Schneetreiben mitten auf der Straße?«
»Ein Mädchen, dessen Vater spät dran ist«, neckte ich ihn.
Dann erschien Papas frostrotes Gesicht. Er trug ein kleines Heubündel.
»Ich bin nicht zu spät«, sagte er und nahm mich in den Arm. »Ich komme genau richtig.«
    Ich verließ die Jurte, um Holz zu hacken, und stapfte lange durch den Schnee. Und auf einmal sah ich es. Am Horizont leuchtete zwischen den Grautönen ein schmaler goldener Streifen auf. Ich musste lächeln, als ich ihn betrachtete: Die Sonne kehrte zurück.
    Ich schloss die Augen und spürte Andrius dicht neben mir. »Wir sehen uns wieder«, sagte er.
    »Ja, wir sehen uns wieder«, flüsterte ich. »Ganz bestimmt.«
    Ich schob eine Hand in die Tasche und drückte den Stein.

Epilog
25. April 1995, Kaunas, Litauen.
    »Was tust du da? Los, weitermachen. Sonst werden wir heute nicht mehr fertig«, sagte der Mann. Hinter ihm dröhnten Bagger und Radlader.
    »Ich habe etwas gefunden«, erwiderte der Bauarbeiter und starrte in die Grube, die er ausgehoben hatte.
    »Was denn?«
    »Weiß ich auch nicht genau.« Der Bauarbeiter hob eine Holzkiste aus der Erde. Er öffnete den zugehakten Deckel und sah hinein. Dann holte er ein großes Glas heraus, das viele Papiere enthielt. Er öffnete es und begann zu lesen.
Guter Freund,
die Notizen und Zeichnungen, die du in Händen hältst, habe ich 1954 vergraben, nachdem ich mit meinem Bruder aus zwölfjähriger Lagerhaft in Sibirien zurückgekehrt war. Wir waren Tausende, aber fast alle sind tot. Und jene, die noch leben, dürfen nicht darüber reden. Obwohl wir uns keines Verbrechens schuldig gemacht haben, gelten wir als Kriminelle. Uns
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