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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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vermisste ihre Stimme schon jetzt. Ich fühlte mich wie ausgehöhlt, und mein träger Herzschlag pulsierte durch meine schmerzenden, leeren Glieder, hallte in mir wider.
    Ich dachte über die Frage des Glatzkopfs nach. Was war schwerer? Zu sterben oder zu überleben? Ich war sechzehn. Ich war eine Waise in Sibirien. Doch ich wusste die Antwort und hatte sie nie in Frage gestellt: Ich wollte leben. Ich wollte miterleben, wie mein Bruder aufwuchs. Ich wollte Litauen wiedersehen. Ich wollte Joana wiedersehen. Ich wollte die Maiglöckchen riechen, die sich unter meinem Fenster im Wind wiegten. Ich wollte in den Feldern malen. Ich wollte Andrius wiederbegegnen und meine Zeichnungen von ihm entgegennehmen. Hier in Sibirien gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war man erfolgreich und überlebte, oder man versagte und starb. Ich wollte überleben. Ich wollte am Leben bleiben.
    Aber ich hatte auch Schuldgefühle. War es egoistisch, dass ich leben wollte, obwohl meine Eltern gestorben waren? War es egoistisch, dass meine Wünsche über das Zusammensein mit meiner Familie hinausgingen? Ich musste jetzt auf meinen elfjährigen Bruder aufpassen. Was würde er tun, wenn auch ich starb?
    Nach der Arbeit half Jonas Herrn Lukas beim Bau eines Sarges. Frau Rimas und ich richteten Mutter für die Beerdigung her.
    »Hat sie noch etwas in ihrem Koffer?«, fragte Frau Rimas.
    »Ich glaube nicht.« Ich zog Mutters Koffer unter der Pritsche hervor. Aber ich hatte mich geirrt. Der Koffer enthielt saubere Kleider: ein Seidenkleid, Seidenstrümpfe, fast neue Schuhe, Lippenstift. Außerdem ein Herrenhemd und eine Krawatte. Papas Kleider. Ich musste weinen.
    Frau Rimas legte sich eine Hand vor den Mund. »Sie hat tatsächlich fest an die Heimkehr geglaubt.«
    Ich betrachtete Papas Hemd, hob es hoch. Meine Mutter hatte gefroren. Sie hätte diese Kleider anziehen können, aber sie hatte sie aufbewahrt, um sauber und ordentlich nach Litauen zurückkehren zu können.
    Frau Rimas holte das Seidenkleid heraus. »Sehr hübsch. Wir ziehen es ihr an.«
    Ich zog Mutter den Mantel aus. Sie hatte ihn seit dem Abend unserer Deportation getragen. Innen war er von Stichen und losen Fäden übersät, weil sie unsere Wertsachen in das Futter eingenäht hatte. Ich untersuchte das Futter und entdeckte ein paar Papiere.
    »Das sind Besitzurkunden für euer Haus in Kaunas«, erklärte Frau Rimas, die sich die Papiere anschaute. »Bewahr sie gut auf. Du wirst sie nach der Heimkehr brauchen.«
    Ich fand noch einen Zettel und faltete ihn auseinander. Eine Adresse in Biberach in Deutschland stand darauf.
    »Deutschland. Dort muss meine Cousine sein.«
    »Gut möglich. Aber du darfst ihr nicht schreiben«, sagte Frau Rimas. »Das könnte sie in Schwierigkeiten bringen.«
    In dieser Nacht stahlen Jonas und ich Schaufeln und Hacken, die draußen vor den Backsteingebäuden standen. »Es muss eine Stelle sein, die wir wiederfinden«, sagte ich. »Denn wir werden ihren Leichnam später nach Litauen mitnehmen.« Wir stiegen auf einen kleinen Hügel an der Laptewsee.
    »Ein schöner Ausblick«, sagte Jonas. »Diese Stelle finden wir wieder.«
    Wir hackten das Eis weg und gruben so tief wie möglich. Wir schufteten die ganze Nacht. Im Morgengrauen kamen uns Frau Rimas und Herr Lukas zu Hilfe. Sogar Janina und der Glatzkopf gruben. Das Grab war relativ flach, denn das Eis war sehr hart.
    Bei Tagesanbruch zog Frau Rimas Mutter ihren Ehering vom Finger. »Passt gut auf ihn auf. Begrabt ihn mit ihr, wenn ihr wieder zu Hause seid.«
    Wir trugen den Sarg aus der Jurte und gingen langsam durch den Schnee zum Hügel. Jonas und ich fassten vorn an, Frau Rimas und Herr Lukas in der Mitte und der Glatzkopf hinten. Janina lief neben mir her. Wildfremde Menschen schlossen sich uns an. Sie beteten für Mutter. Schon bald folgte uns eine lange Prozession. Wir kamen an den NKWD-Unterkünften vorbei. Kretzky sprach auf der Veranda mit einigen Wachmännern. Bei unserem Anblick verstummte er. Ich sah stur geradeaus und ging auf die kalte Grube im Boden zu.

82
    Mit einer Eulenfeder und meiner Mischung aus Asche und Wasser zeichnete ich eine Karte des Grabes. Mutters Tod hatte ein riesiges Loch in mein Leben gerissen. Das ewige Grau im Lager verdunkelte sich noch weiter. Mitten in der Polarnacht war unser einziger Sonnenschein hinter einer Wolke verschwunden.
    »Wir könnten uns ertränken«, sagte der Glatzkopf. »Das wäre einfach.«
    Niemand erwiderte etwas.
    »Warum schenkst du mir keine
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