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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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nicht von draußen zurückgekehrt.
    »Ich suche ihn«, sagte ich zu Frau Rimas.
    »Er konnte kaum laufen«, erzählte der Glatzkopf. »Bei dem Wind ist er sicher in der nächsten Jurte untergeschlüpft. Du solltest kein Risiko eingehen.«
    »Wir müssen einander helfen!«, erwiderte ich. Aber warum erwartete ich, dass ausgerechnet er das verstand?
    »Du musst hierbleiben. Jonas geht es nicht gut.« Frau Rimas sah zu Janina.
    »Wo ist ihre Mutter?«, fragte ich.
    »Ich habe sie zur Hütte der Typhuskranken gebracht«, flüsterte Frau Rimas.
    Ich setzte mich neben meinen Bruder, ordnete die Lumpen und Fischernetze, mit denen er zugedeckt war.
    »Ich bin so müde, Lina«, sagte er. »Mein Gaumen und meine Zähne tun weh.«
    »Ich weiß. Sobald der Sturm abflaut, suche ich etwas zu essen. Du brauchst Fisch. Hier gibt es ganze Fässer davon. Ich muss nur ein wenig stehlen.«
    »Mir ist so k-kalt«, stieß Jonas zitternd hervor. »Und ich kann die Beine nicht mehr ausstrecken.«
    Ich erhitzte Backsteine und legte sie vor seine Füße. Einen Backstein brachte ich Janina. Gesicht und Hals waren von Skorbutflecken übersät. Ihre Nasenspitze war schwarz und erfroren.
    Ich hielt das Feuer in Gang. Aber das half kaum. Wir hatten nicht viel Holz, und ich musste sparsam damit umgehen. Ich wusste nicht, wie lange der Sturm anhalten würde. Ich sah zu den leeren Stellen, wo Mutter gelegen hatte, Janinas Mutter, Herr Lukas, der immer seine Uhr aufgezogen hatte, der Lange. Auf dem Boden der Jurte gab es viele leere Stellen.
    Ich legte mich neben Jonas und wärmte ihn, wie wir Mutter gewärmt hatten. Ich schlang meine Arme um ihn, nahm seine Hände. Der Wind peitschte gegen unsere zerfallende Jurte und blies ringsumher Schnee durch die Ritzen.
    So durfte es nicht enden. Das konnte nicht sein. Was verlangte das Leben von mir? Wie sollte ich handeln, wenn ich auf diese Frage keine Antwort hatte?
    »Ich liebe dich«, flüsterte ich Jonas ins Ohr.

84
    Tags darauf flaute der Sturm ab. Jonas konnte kaum noch sprechen. Meine Gelenke waren so steif, als wären sie erfroren.
    »Heute müssen wir arbeiten«, sagte Frau Rimas. »Wir brauchen Brot und Holz.«
    »Ja«, pflichtete der Glatzkopf bei.
    Ich wusste, dass sie Recht hatten. Aber hatte ich genug Kraft? Ich sah zu Jonas, der reglos, mit eingefallenen Wangen und offenem Mund auf der Pritsche lag. Plötzlich schlug er die Augen auf und starrte mit leerem Blick zur Decke.
    »Jonas?«, fragte ich und fuhr auf.
    Da erscholl draußen Lärm. Männer schrien. Jonas zuckte mit den Beinen.
    »Schon gut«, beruhigte ich ihn und versuchte, seine Füße zu wärmen.
    Die Tür unserer Jurte wurde aufgestoßen. Ein Mann beugte sich herein. Er war in Zivil – er trug einen pelzbesetzten Mantel und eine dicke, buschige Mütze.
    »Gibt es hier Kranke?«, rief er auf Russisch.
    »Ja!«, sagte Frau Rimas. »Wir sind krank. Wir brauchen Hilfe.«
    Der Mann trat ein. Er trug eine Laterne.
    »Bitte«, flehte ich. »Mein Bruder und das kleine Mädchen leiden an Skorbut. Und wir vermissen einen Freund.«
    Der Mann ging zu Jonas und Janina. Er stieß einen Schwall russischer Schimpfworte aus. Dann schrie er etwas, und ein NKWD-Mann steckte den Kopf zur Tür herein.
    »Fisch!«, befahl der Mann. »Sofort rohen Fisch für diese Kinder. Wer ist noch krank?«
    »Ich bin wohlauf«, sagte ich.
    »Wie heißt du?«
    »Lina Vilkas.«
    »Und wie alt bist du?«
    »Sechzehn.«
    Er überdachte die Situation. »Ich werde helfen, aber es gibt Hunderte Kranke und Tote. Ich brauche Unterstützung. Gibt es hier im Lager Ärzte oder Krankenschwestern?«
    »Nein, nur einen Tierarzt. Aber …« Ich verstummte. Vielleicht war er schon tot.
    »Nur einen Tierarzt?« Er senkte kopfschüttelnd den Blick.
    »Wir können Ihnen helfen«, sagte Frau Rimas. »Wir sind noch gut zu Fuß.«
    »Und Sie, alter Mann? Ich brauche Leute, die Suppe kochen und Fisch schneiden. Die Kinder brauchen Vitamin C.«
    Da hatte er den Falschen gefragt. Der Glatzkopf würde niemandem helfen. Nicht einmal sich selbst.
    Der Glatzkopf hob den Kopf. »Ja, ich helfe Ihnen«, sagte er.
    Ich starrte ihn an.
    »Ich helfe. Aber nur, wenn diese Kinder als Erste behandelt werden«, sagte der Glatzkopf, als er auf die Beine kam, und zeigte auf Jonas und Janina.
    Der Arzt nickte. Dann kniete er sich neben Jonas.
    »Wird der NKWD erlauben, dass Sie uns helfen?«, fragte ich ihn.
    »Sie haben keine andere Wahl. Ich bin Inspektor. Ich kann dem Tribunal Bericht erstatten. Sie
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