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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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genau einem Jahr hatten sowjetische Truppen die Grenze unseres Landes überschritten. Im August wurde Litauen dann offiziell ein Teil der Sowjetunion. Als ich mich beim Abendessen darüber beschwerte, schrie Papa, ich dürfe nichts Abfälliges über die Sowjets sagen, niemals. Er schickte mich auf mein Zimmer. Danach sagte ich nichts mehr. Aber ich dachte viel darüber nach.
    »Schuhe, Jonas! Extrasocken und den Mantel!«, hörte ich Mutter vom anderen Ende des Flurs rufen. Ich nahm unser goldgerahmtes Familienfoto vom Regal und legte es in den leeren Koffer. Die Gesichter sahen mich glücklich und nichts ahnend an. Es war vor zwei Jahren an Ostern aufgenommen worden. Da hatte Oma noch gelebt. Falls wir wirklich ins Gefängnis mussten, wollte ich sie mitnehmen. Aber wir kamen ganz bestimmt nicht ins Gefängnis. Wir hatten nichts Unrechtes getan.
    Im Haus knallten Schranktüren, Schubläden rumpelten.
    »Lina«, sagte Mutter, die voll beladen in mein Zimmer kam. »Beeilung!« Sie riss meinen Schrank und meine Kommode auf, warf und stopfte hastig alles Mögliche in den Koffer.
    »Ich finde meinen Skizzenblock nicht, Mutter. Wo ist er?«, fragte ich panisch.
    »Keine Ahnung. Wir kaufen einen neuen. Pack deine Sachen. Los, los!«
    Jonas kam herein. Er trug Schuluniform samt Kinderkrawatte und hatte seinen Ranzen in der Hand. Sein blondes Haar war ordentlich zur Seite gekämmt.
    »Ich bin so weit, Mutter«, sagte er mit bebender Stimme.
    »N-nein!«, stotterte Mutter, als sie sah, dass Jonas sich für die Schule angezogen hatte. Sie rang kurz nach Luft und senkte die Stimme. »Nein, mein Schatz. Hol deinen Koffer! Komm!« Sie packte ihn beim Arm. »Zieh Strümpfe und Schuhe an, Lina. Beeilung!« Sie warf mir meinen leichen Regenmantel zu und rannte mit Jonas in sein Zimmer. Ich schlüpfte in den Mantel.
    Ich zog meine Sandalen an, nahm zwei Bücher, Haarbänder und Bürste. Wo war mein Skizzenblock? Ich steckte Briefpapier, Schreibzeug und das Bündel Rubel zwischen den Berg von Sachen, die wir in meinen Koffer geworfen hatten. Ich ließ die Verschlüsse zuschnappen und lief aus dem Zimmer, wo die Vorhänge über dem frisch gebackenen Brot wehten, das noch auf meinem Schreibtisch lag.
Ich sah mein Spiegelbild in der Glastür der Bäckerei und hielt kurz inne. Ich hatte grüne Farbe am Kinn. Ich kratzte sie ab und stieß die Tür auf. Über mir läutete eine Glocke. Im Laden war es warm, und es roch nach Hefe.
»Wie schön, dich zu sehen, Lina.« Die Frau eilte zum Tresen, um mich zu bedienen. »Wie kann ich dir helfen?«
Kannte ich sie? »Entschuldigung, aber ich …«
»Mein Mann ist Professor an der Universität. Er arbeitet für deinen Vater«, sagte sie. »Ich habe dich in der Stadt mit deinen Eltern gesehen.«
Ich nickte. »Meine Mutter hat mich gebeten, ein Brot abzuholen«, sagte ich.
»Aber gern«, sagte die Frau, die sich hinter dem Tresen zu schaffen machte. Sie wickelte einen dicken Laib in braunes Papier und reichte ihn mir. Als ich ihr das Geld geben wollte, schüttelte sie den Kopf.
»Bitte nicht«, flüsterte sie. »Wir können es euch sowieso nie entgelten.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« Ich streckte ihr die Hand mit dem Geld hin, doch sie beachtete mich nicht.
Die Glocke bimmelte. Der nächste Kunde trat ein. »Herzliche Grüße an deine Eltern«, sagte die Frau und wandte sich dem neuen Kunden zu.
Ich fragte Papa abends nach dem Brot.
»Sehr freundlich von ihr«, sagte er. »Aber unnötig.«
»Was hast du denn getan?«, fragte ich.
»Nichts, Lina. Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Wenn sie uns mit einem Brot belohnt, musst du etwas für sie getan haben«, bohrte ich nach.
»Ich brauche keine Belohnung. Man tut, was gut und richtig ist, Lina, ohne Dankbarkeit oder eine Belohnung zu erwarten. Und nun mach deine Hausaufgaben.«

3
    Mutter packte auch einen großen Koffer für Jonas. Er wirkte daneben winzig klein und musste den Griff mit beiden Händen packen und sich weit zurücklehnen, um ihn heben zu können. Er beklagte sich weder über das Gewicht, noch bat er um Hilfe.
    Klirren von Glas und Porzellan hallte in rascher Folge durch das Haus. Wir liefen in das Esszimmer und stellten fest, dass Mutter ihr bestes Geschirr auf den Fußboden warf. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, und ihre goldenen Locken fielen ihr in die Augen.
    »Mama! Nein!«, rief Jonas und lief auf die Scherben zu, die den Boden bedeckten.
    Ich hielt ihn auf, bevor er das Glas anfassen konnte. »Warum schmeißt du deine
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