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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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am Zeitungskiosk? Ich ließ den Blick über die Menschenmassen auf dem Bahnsteig gleiten. Es waren fast nur ältere Leute. In Litauen ehrte man die Alten, und nun standen sie hier, zusammengetrieben wie Vieh.
    »Dawai!« Ein NKWD-Mann packte Jonas bei den Schultern und zog ihn davon.
    »Nein!«, schrie Mutter.
    Sie raubten uns Jonas. Meinen hübschen, niedlichen Bruder, der Insekten nicht zertrat, sondern aus dem Haus scheuchte, und sein Lineal gestiftet hatte, damit das Bein eines alten Meckerfritzen geschient werden konnte.
    »Mama! Lina!«, schrie er und ruderte mit den Armen.
    »Halt!«, brüllte ich und rannte hinterher. Mutter hielt den NKWD-Mann fest und redete in fließendem, korrektem Russisch auf ihn ein. Der Mann blieb stehen und hörte ihr zu. Sie senkte die Stimme, sprach ganz ruhig. Ich verstand kein Wort. Der Mann riss Jonas zu sich. Ich packte den anderen Arm meines Bruders, dessen kleiner Körper von Schluchzern geschüttelt wurde. Vorn auf seiner Hose breitete sich ein großer feuchter Fleck aus. Er ließ den Kopf hängen und weinte.
    Mutter zog ein Bündel Rubel so aus der Tasche, dass der NKWD-Mann es gerade eben sehen konnte. Er griff danach, sagte dann etwas zu Mutter und deutete mit dem Kopf auf ihren Hals. Sie riss den Bernsteinanhänger ab und drückte ihn dem Mann in die Hand. Aber er schien immer noch nicht zufrieden zu sein. Während Mutter weiterredete, zog sie eine goldene Taschenuhr aus dem Mantel. Ich kannte die Uhr. Sie hatte ihrem Vater gehört, dessen Name auf die Rückseite graviert war. Der NKWD-Mann schnappte sich die Uhr, ließ Jonas los und brüllte die Leute neben uns an.
    Habt ihr euch je gefragt, wie viel ein Menschenleben wert ist? An diesem Morgen hatte das Leben meines Bruders den Wert einer Taschenuhr.

8
    Ist wieder gut, mein Schatz«, sagte Mutter, nahm Jonas in die Arme und küsste ihm die Tränen vom Gesicht. »Alles wird gut, nicht wahr, Lina?«
    »Ja«, antwortete ich leise.
    Jonas, der immer noch weinte, hielt beschämt beide Hände vor seinen Schritt.
    »Keine Sorge, mein Schatz. Du kannst dich bald umziehen«, sagte Mutter, die sich schützend vor ihn stellte. »Gib deinem Bruder den Mantel, Lina.«
    Ich zog den Mantel aus und reichte ihn Mutter.
    »Den musst du nur kurz tragen.«
    »Warum wollte er mich mitnehmen, Mutter?«, fragte Jonas.
    »Ich weiß es nicht, mein Schatz. Aber jetzt sind wir ja wieder beisammen.«
    Beisammen. Wir standen auf dem Bahnsteig, mitten im Chaos, ich im geblümten Nachthemd und mein Bruder in einem himmelblauen Regenmantel, der fast den Boden berührte. Wir sahen bestimmt lächerlich aus, aber niemand beachtete uns.
    »Schnell, Frau Vilkas!« Das war die näselnde Stimme von Fräulein Grybas, der unverheirateten Lehrerin. Sie winkte uns zu sich. »Wir sind hier drüben. Sie teilen die Leute auf. Beeilung.«
    Mutter nahm Jonas bei der Hand. »Kommt, Kinder.« Wir bahnten uns einen Weg durch die Menge wie ein kleines Boot im Sturm, ohne zu wissen, ob wir untergehen oder über Wasser bleiben würden. Rote Eisenbahnwaggons standen am Bahnsteig. Es waren dreckige und klapprige Viehwaggons, so viele, dass man das Ende des Zuges nicht sehen konnte. Unzählige Litauer schlängelten sich mit ihren Habseligkeiten darauf zu.
    Mutter steuerte uns durch die Menge, wobei sie uns abwechselnd an den Schultern schob und zurückhielt. Ich sah weiße Fingerknöchel, die Koffergriffe umklammerten. Leute lagen weinend auf den Knien und banden ihre aufgeplatzten Koffer zu, während NKWD-Leute achtlos über den Inhalt trampelten. Wohlhabende Bauern und ihre Familien trugen Eimer voller Milch und runde Käselaibe. Ein kleiner Junge hielt eine Wurst, fast so lang wie sein Oberkörper. Sie entglitt ihm und wurde von den Menschenmassen sofort in den Dreck getreten. Eine Frau rammte mir aus Versehen einen silbernen Kerzenhalter gegen den Arm, und ein Mann mit Akkordeon rannte vorbei. Ich dachte an all die schönen Dinge, die jetzt in Scherben auf dem Fußboden unseres Hauses lagen.
    »Schneller!«, rief Fräulein Grybas und winkte uns. »Dies ist die Familie Vilkas«, sagte sie zu einem NKWD-Mann mit Klemmbrett. »Sie steigen auch in diesen Waggon.«
    Mutter suchte die Menge vor dem Einsteigen angestrengt mit Blicken ab. Bitte , flehten ihre Augen, während sie nach unserem Vater Ausschau hielt.
    »Mutter«, flüsterte Jonas. »Diese Wagen sind für Schweine und Kühe.«
    »Ja, ich weiß. Wir gehen jetzt auf Abenteuerreise.« Sie hob Jonas in den Waggon, und
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