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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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da hörte ich es – ein Säugling weinte, und ein Mann stöhnte.
    »Nein, Mutter«, sagte ich. »Nicht mit diesen Leuten.«
    »Sei still, Lina. Sie brauchen unsere Hilfe.«
    »Warum hilft ihnen nicht jemand anders? Wir brauchen doch auch Hilfe.«
    »Mutter«, sagte Jonas, der befürchtete, der Zug könnte losfahren. »Kommt ihr auch rein?«
    »Ja, mein Schatz, wir kommen. Nimmst du bitte diese Tasche?« Mutter drehte sich zu mir um. »Wir haben keine Wahl, Lina. Reiß dich zusammen, sonst machst du deinem Bruder Angst.«
    Fräulein Grybas streckte einen Arm nach Mutter aus. Und was war mit mir? Ich hatte auch Angst. War das etwa unwichtig? Papa, wo bist du? Ich sah mich um. Auf dem Bahnsteig war jetzt die Hölle los. Ich wäre am liebsten weggerannt. Gerannt, bis ich nicht mehr konnte. Ich würde zur Universität rennen, um Papa zu suchen. Ich würde nach Hause rennen. Einfach nur rennen.
    »Lina.« Mutter stand jetzt vor mir und hob mein Kinn. »Es ist schrecklich, ich weiß«, flüsterte sie. »Aber wir müssen um jeden Preis zusammenbleiben. Nur das zählt.« Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und drehte mich zum Waggon um.
    »Wohin fahren wir?«, fragte ich.
    »Das weiß ich noch nicht.«
    »Und wir müssen wirklich in diese Viehwaggons?«
    »Ja, aber bestimmt nicht lange«, antwortete Mutter.

9
    Im Waggon war es stickig. Trotz der offenen Tür stank es nach menschlichen Ausdünstungen. Die Leute saßen auf ihren Habseligkeiten, dicht gedrängt wie Ölsardinen. Hinten im Waggon hatte man ungefähr zwei Meter tiefe Bretter als Regale eingebaut. Auf einem lag die geschwächte Ona, das Kind an ihrer Brust.
    »Aua!« Der Glatzkopf schlug mir gegen das Bein. »Pass auf, Mädchen! Du wärst um ein Haar auf mich getreten.«
    »Wo sind die Männer?«, wollte Mutter von Fräulein Grybas wissen.
    »Sie wurden weggebracht«, antwortete sie.
    »Wir brauchen hier Männer, die den Kranken helfen«, sagte Mutter.
    »Die Männer sind weg. Man hat uns aufgeteilt. Und es werden immer mehr Leute in diesen Waggon gequetscht. Es gibt nur ein paar ältere Männer, die nicht mehr kräftig genug sind«, erwiderte Fräulein Grybas.
    Mutter sah sich um. »Die Kleinen müssen nach ganz oben. Versuch Ona auf das untere Brett zu legen, Lina, damit oben noch mehr Kinder Platz haben.«
    »Kommen Sie zur Besinnung, Weib!«, bellte der Glatzkopf. »Wenn Sie Platz machen, werden noch mehr Leute in diesen Waggon gesteckt.«
    Die Bibliothekarin war kleiner als ich, aber kräftig gebaut, und sie half dabei, Ona umzubetten. »Ich bin Frau Rimas«, sagte sie zu ihr.
    Frau … Sie war also auch verheiratet. Wo mochte ihr Mann sein? Vielleicht bei Papa. Plötzlich fing der Säugling furchtbar an zu schreien.
    »Mädchen oder Junge?«, fragte Frau Rimas.
    »Ein Mädchen«, antwortete Ona mit schwacher Stimme. Sie verlagerte ihre dreckigen, wunden Füße auf dem Brett.
    »Das Kind ist hungrig«, sagte Frau Rimas.
    Als ich mich im Waggon umsah, hatte ich das Gefühl, als hätte sich mein Kopf vom Körper gelöst. Noch mehr Leute drängten herein, unter anderem eine Frau mit einem Jungen in meinem Alter. Jemand zupfte an meinem Hemd.
    »Gehst du zu Bett?«, fragte ein kleines Mädchen, dessen Haar die Farbe von Perlen hatte.
    »Wie bitte?«
    »Du bist im Nachthemd. Gehst du zu Bett?« Sie hielt mir eine abgewetzte Puppe hin. »Das ist mein Püppchen.«
    Mein Nachthemd. Ich hatte noch das Nachthemd an. Jonas trug meinen himmelblauen Mantel. Das hatte ich ganz vergessen. Ich drängelte mich zu Mutter und Jonas durch. »Wir müssen uns umziehen«, sagte ich.
    »Es ist zu eng, um die Koffer zu öffnen«, erwiderte Mutter. »Und wir sind hier nicht für uns.«
    »Bitte«, sagte Jonas, der meinen Mantel fester um sich schlang.
    Mutter versuchte vergeblich, Platz in einer Ecke zu finden. Sie bückte sich und öffnete meinen Koffer, steckte eine Hand durch den Spalt, tastete herum. Ich sah meinen rosa Pullover und einen Schlüpfer. Dann holte sie mein dunkelblaues Baumwollkleid heraus und suchte nach einer Hose für Jonas.
    »Entschuldigen Sie, meine Dame«, sagte sie zu einer Frau, die in der Ecke des Waggons saß. »Könnten wir die Plätze tauschen, damit meine Kinder sich umziehen können?«
    »Das ist unser Platz«, verkündete die Frau. »Wir rühren uns nicht vom Fleck.« Ihre zwei Töchter sahen zu uns auf.
    »Ich weiß, dass es Ihr Platz ist. Es wird nicht lange dauern. Ich möchte nur, dass sich meine Kinder ungestört umziehen können.«
    Die Frau
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