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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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Mutter und lächelte Jonas an.
    »Ein Lineal? Sie wollen mein Bein mit einem Lineal schienen? Sind Sie denn alle verrückt geworden?«, rief der Glatzkopf.
    »Mehr können wir im Moment nicht tun«, sagte der Bankangestellte. »Hat jemand ein Band?«
    »Bitte, erschießen Sie mich doch!«, schrie der Glatzkopf.
    Mutter löste ihren Seidenschal und gab ihn dem Bankangestellten. Die Bibliothekarin spendete die Kordel ihres Umhängetuchs, und Fräulein Grybas kramte in ihrer Tasche. Vorn auf Onas Krankenhauskittel breitete sich ein Blutfleck aus.
    Mir wurde schlecht. Ich schloss die Augen und versuchte, zur Beruhigung an etwas anderes zu denken. An unser Haus, daran, wie Mutter in der Küche immer Papas Krawatte gerichtet hatte, an die Maiglöckchen, an Oma … Der Gedanke an ihr Gesicht ließ mich aus irgendeinem Grund ruhiger werden. Ich dachte an das Foto in meinem Koffer. Oma, dachte ich, hilf uns.
    Wir fuhren zu einem kleinen Rangierbahnhof auf dem Land. Auf dem Hof standen sowjetische Lastwagen, voll mit Leuten wie uns. Als wir an einem Wagen vorbeikamen, streckten ein Mann und eine Frau den Kopf heraus. Das Gesicht der Frau war tränenüberströmt.
    »Paulina!«, brüllte der Mann. »Ist unsere Tochter Paulina bei Ihnen?« Ich schüttelte den Kopf, und dann waren wir auch schon vorbeigefahren.
    »Warum sind wir nicht am Bahnhof von Kaunas, sondern auf diesem abgelegenen Rangierbahnhof?«, fragte eine alte Frau.
    »Hier ist es wohl einfacher, uns nach Familien zu ordnen. Im Hauptbahnhof ist zu viel los«, antwortete Mutter.
    Doch sie klang unsicher. Sie versuchte, sich selbst von ihren Worten zu überzeugen. Ich sah mich um. Der Bahnhof lag in einer menschenleeren Gegend, inmitten dunkler Wälder. Ich stellte mir vor, wie man einen Teppich hob und uns mit einem riesigen sowjetischen Besen darunterkehrte.

7
    Dawai !«, brüllte ein NKWD-Mann, als er die Ladeklappe öffnete. Auf dem Bahnhof wimmelte es von Fahrzeugen, Offizieren und Leuten mit Gepäck. Der Geräuschpegel stieg mit jeder Minute.
    Mutter beugte sich vor und legte uns beiden eine Hand auf die Schulter. »Bleibt bei mir. Haltet euch an meinem Mantel fest, falls nötig. Wir dürfen nicht getrennt werden.« Jonas packte Mutters Mantel.
    »Dawai!«, schrie der Mann, riss einen Verhafteten von der Pritsche und stieß ihn um. Mutter und der Bankangestellte halfen den anderen vom Laster. Ich hielt den Säugling, während die beiden Ona hinunterließen.
    Der Glatzkopf wand sich vor Schmerzen, als er vom Laster gehoben wurde.
    Der Bankangestellte sprach einen NKWD-Mann an. »Hier sind Menschen, die ärztliche Hilfe benötigen. Holen Sie bitte einen Arzt.« Der Mann beachtete ihn nicht. »Wir brauchen ärztliche Hilfe! Gibt es hier eine Krankenschwester oder einen Arzt?«
    Da packte der NKWD-Mann ihn, stieß ihm die Gewehrmündung in den Rücken und führte ihn ab. »Mein Gepäck!«, rief der Bankangestellte noch. Die Bibliothekarin nahm seinen Koffer, doch bevor sie zu ihm laufen konnte, war er in der Menge verschwunden.
    Nun erschien eine Litauerin, die sich als Krankenschwester vorstellte. Wir umringten sie, während sie sich um Ona und den Glatzkopf kümmerte. Der Bahnhof war staubig, und Onas nackte Füße waren von Dreck verkrustet. Massen von Menschen mit verzweifelten Gesichtern schlängelten sich in allen Richtungen an uns vorbei. Ich sah eine Schulkameradin mit ihrer Mutter. Sie wollte mir winken, aber ihre Mutter hielt ihr die Augen zu, als sie sich unserer Gruppe näherten.
    »Dawai!«, bellte ein NKWD-Mann.
    »Wir können diese Menschen nicht hierlassen«, sagte Mutter. »Sie müssen eine Trage holen.«
    Der NKWD-Mann lachte. »Ihr müsst sie schon selbst tragen.«
    Das taten wir. Zwei Männer aus unserer Gruppe schleppten den jammernden Glatzkopf. Ich trug den Säugling und einen Koffer, Mutter stützte Ona. Jonas mühte sich gemeinsam mit Fräulein Grybas und der Bibliothekarin mit dem übrigen Gepäck ab.
    Wir kamen zum Bahnsteig. Hier herrschte das reinste Chaos. Familien wurden auseinandergerissen. Kinder schrien, Mütter flehten. Zwei NKWD-Leute zogen einen Mann mit sich. Seine Frau wollte ihn nicht loslassen und wurde einige Meter mitgeschleift, bis man sie wegtrat.
    Die Bibliothekarin nahm mir den Säugling ab.
    »Ist Papa hier, Mutter?«, fragte Jonas, der sich immer noch an ihren Mantel klammerte.
    Das fragte ich mich auch. Wann und wohin hatten die Sowjets unseren Vater verschleppt? Auf dem Weg zur Arbeit? Oder während der Mittagspause
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