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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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schönsten Sachen kaputt, Mama?«, fragte ich.
    Sie starrte die Porzellantasse in ihrer Hand an. »Weil ich sie so liebe.« Sie warf die Tasse auf den Fußboden und griff sofort nach der nächsten.
    Jonas begann zu weinen.
    »Nicht weinen, mein Schatz. Wir kaufen später viel schönere.«
    Da wurde die Haustür von drei NKWD-Leuten aufgestoßen, alle mit Bajonett auf dem Gewehr. »Was ist hier los?«, fragte ein hochgewachsener Offizier und besah das Trümmerfeld.
    »Es war ein Unfall«, antwortete Mutter gelassen.
    »Ihr habt sowjetisches Eigentum zerstört«, brüllte er.
    Jonas zog den Koffer enger an sich heran, als befürchtete er, dass auch dieser gleich sowjetisches Eigentum würde.
    Mutter stellte sich vor den Spiegel in der Eingangshalle, um ihre Locken zu richten und den Hut aufzusetzen. Der NKWD-Offizier stieß ihr den Gewehrkolben gegen die Schulter und schleuderte sie mit dem Gesicht gegen den Spiegel. »Ihr bürgerlichen Schweine verplempert immer Zeit. Du musst dich nicht mehr hübsch machen«, höhnte er.
    Mutter richtete sich auf, strich ihr Kleid glatt und rückte den Hut zurecht. »Bitte um Nachsicht«, sagte sie tonlos zu dem Offizier. Dann ordnete sie erneut ihre Locken und steckte die Nadel mit der Perle an ihren Hut.
    Bitte um Nachsicht? Hatte sie das wirklich gesagt? Diese Männer brachen abends in unser Haus ein und stießen sie gegen den Spiegel – und sie bat um Nachsicht? Dann griff sie nach ihrem langen grauen Mantel, und plötzlich verstand ich. Sie hielt sich zurück, weil sie den sowjetischen Offizier nicht provozieren wollte. Mir stand vor Augen, wie sie Schmuck, Papiere, Silber und andere Wertsachen in das Futter ihres Mantels eingenäht hatte.
    »Ich muss ins Bad«, verkündete ich, um die Männer von meiner Mutter und dem Mantel abzulenken.
    »Du hast dreißig Sekunden.«
    Als ich die Badezimmertür schloss, sah ich mein Gesicht im Spiegel. Ich konnte nicht ahnen, wie rasch es sich verändern, wie schnell es verhärmen sollte. Hätte ich das geahnt, dann hätte ich versucht, mir meinen Anblick einzuprägen. Denn es sollten über zehn Jahre vergehen, bis ich wieder in einen Spiegel schaute.

4
    Die Laternen waren aus, und auf der Straße war es stockdunkel. Die Männer trieben uns an. Ich sah, wie Frau Raskunas durch ihre Vorhänge spähte. Als sie merkte, dass ich sie gesehen hatte, zog sie den Kopf zurück. Mutter stieß mich gegen den Arm, damit ich nicht aufschaute. Jonas hatte große Mühe mit seinem Koffer, der gegen seine Schienbeine knallte.
    »Dawai!«, befahl ein Offizier. Beeilung, immer Beeilung.
    Wir marschierten zur Straßenkreuzung, wo sich ein großer dunkler Umriss abzeichnete, ein Lastwagen, der von weiteren NKWD-Männern umringt war. Als wir uns seiner Rückseite näherten, sah ich Leute, die hinten auf ihrem Gepäck saßen.
    »Hilf mir hinauf, bevor sie es tun«, flüsterte Mutter, weil sie nicht wollte, dass die Männer ihren Mantel anfassten. Ich half ihr, und ein Offizier schleuderte Jonas auf die Pritsche. Er fiel auf das Gesicht, und man warf den Koffer auf seinen Rücken. Ich stürzte nicht, doch als ich mich aufrichtete, starrte mich eine Frau an und legte sich eine Hand vor den Mund.
    »Lina, mein Schatz, knöpf den Mantel zu«, befahl Mutter. Erst da merkte ich, dass ich mein geblümtes Nachthemd trug. In der Eile hatte ich vergessen, mich anzuziehen. Ich hatte nur an meinen Skizzenblock gedacht. Dann sah ich eine große, hagere Frau mit spitzer Nase, die Jonas anstarrte. Fräulein Grybas. Sie war eine unverheiratete Lehrerin, eine von den ganz strengen. Ich erkannte auch andere Leute: Die Bibliothekarin, den Besitzer eines nahen Hotels und einige Männer, mit denen Papa häufiger auf der Straße gesprochen hatte.
    Wir standen auf der Liste. Ich wusste nicht, was für eine Liste es war, aber wir standen darauf. Genau wie die übrigen fünfzehn Leute im Wagen. Die Klappe des Lasters wurde zugeknallt. Ein vor mir sitzender glatzköpfiger Mann stöhnte auf.
    »Wir werden alle sterben«, sagte er langsam. »Wir werden ganz sicher sterben.«
    »Unsinn!«, erwiderte Mutter wie aus der Pistole geschossen.
    »Doch«, beharrte er. »Das ist unser Tod.«
    Der Laster fuhr so ruckartig an, dass es die Leute von den Sitzen riss. Der Glatzkopf rappelte sich auf, kletterte über die Klappe und sprang. Er knallte auf den Bürgersteig und brüllte vor Schmerz wie ein weidwundes Tier. Die Leute hinten auf dem Laster schrien. Das Fahrzeug kam quietschend zum Stehen.
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