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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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NKWD-Männer sprangen heraus. Als sie die Klappe öffneten, sah ich den Mann, der sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzte. Man hob ihn hoch und wuchtete ihn wieder auf die Pritsche. Eines seiner Beine sah aus, als wäre es in eine Mangel geraten. Jonas vergrub sein Gesicht in Mutters Ärmel. Ich ergriff seine Hand. Er zitterte am ganzen Körper. Mein Blick trübte sich, und ich kniff die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, fuhr der Lastwagen an.
    »Nein!«, jaulte der Glatzkopf und hielt sein Bein.
    Der Lastwagen hielt vor einem Krankenhaus. Alle waren froh, dass man sich um den verletzten Mann kümmern wollte. Doch wir hatten uns geirrt. Wir warteten. Auf der Liste stand noch eine Frau, die gerade ein Kind gebar. Sobald die Nabelschnur durchtrennt war, würde man sie samt ihrem neugeborenen Kind auf den Lastwagen werfen.

5
    Es vergingen fast vier Stunden. Wir saßen im Dunkeln vor dem Krankenhaus, ohne aussteigen zu dürfen. Andere Lastwagen kamen vorbei. Auf manchen sah man Leute, die in großen Netzen gefangen waren.
    Auf den Straßen war plötzlich viel los. »Man hat uns sehr früh geholt«, bemerkte ein Mann zu Mutter. Er sah auf die Uhr. »Jetzt ist es schon drei Uhr nachts.«
    Der auf dem Rücken liegende Glatzkopf sah Jonas an. »Leg eine Hand auf meinen Mund und kneif meine Nase zu, Junge. Und ja nicht loslassen.«
    »Das wird er nicht tun«, sagte Mutter, die Jonas an sich zog.
    »Dumme Gans. Wissen Sie nicht, dass dies erst der Anfang ist? Noch können wir in Würde sterben.«
    »Elena!«, zischte jemand auf der Straße. Ich sah Mutters Cousine Regina, die sich in den Schatten duckte.
    »Sind die Schmerzen erträglicher, wenn Sie auf dem Rücken liegen?«, fragte Mutter den Glatzkopf.
    »Elena!« Dieses Mal sprach Regina etwas lauter.
    »Ich glaube, sie ruft dich, Mutter«, flüsterte ich und sah zu dem NKWD-Mann, der weiter hinten saß und rauchte.
    »Nein, sie ruft mich nicht – sie ist nur eine Verrückte«, sagte Mutter laut. »Verschwinde und lass uns in Ruhe«, rief sie.
    »Aber Elena, ich …«
    Mutter wandte sich ab und tat so, als wäre sie in ein Gespräch mit mir vertieft. Sie ignorierte ihre Cousine. Ein kleines Bündel wurde auf die Pritsche geworfen und landete dicht neben dem Glatzkopf. Er griff gierig danach.
    »Und Sie sprechen von Würde, mein Herr?«, fragte Mutter. Sie entriss ihm das Bündel und schob es unter ihre Beine. Ich fragte mich, was es enthielt. Wie konnte Mutter ihre Cousine als »Verrückte« bezeichnen? Regina hatte viel riskiert, um sie zu finden.
    »Sind Sie nicht die Gattin von Kostas Vilkas, dem Rektor der Universität?«, fragte ein Mann im Anzug, der ein Stückchen weiter weg saß. Mutter nickte und wrang ihre Hände.
Ich sah zu, wie Mutter ihre Finger verschränkte.
Im Esszimmer wogte Gemurmel. Die Männer hatten seit Stunden dort gesessen.
»Bring ihnen frischen Kaffee, Liebling«, sagte Mutter.
Ich ging mit der Kanne ins Esszimmer. Über dem Tisch hing eine Wolke aus Zigarettenrauch, denn Fenster und Vorhänge waren zu.
»Repatriieren, falls sie damit durchkommen«, sagte mein Vater und verstummte, als er mich in der Tür stehen sah.
»Möchte noch jemand Kaffee?«, fragte ich und hob die silberne Kanne.
Einige Männer senkten den Blick. Irgendjemand hustete.
»Du wirst ja eine richtige junge Dame, Lina«, sagte ein Freund meines Vaters von der Universität. »Und wie ich höre, bist du künstlerisch sehr begabt.«
»Das ist wahr!«, sagte Papa. »Sie hat einen ganz eigenen Stil. Und sie ist außergewöhnlich klug«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu.
»Dann kommt sie also nach ihrer Mutter«, scherzte ein Mann. Alle lachten.
»Sag mal, Lina«, fragte der Mann, der für die Zeitung schrieb, »was hältst du von unserem neuen Litauen?«
Mein Vater ging sofort dazwischen. »Das ist wohl kaum das passende Gesprächsthema für ein Mädchen, nicht wahr?«, sagte er.
»Das wird ein Thema für alle sein, Kostas, ob alt oder jung«, erwiderte der Journalist und fügte lächelnd hinzu: »Außerdem zitiere ich sie ja nicht in der Zeitung.«
Papa rutschte auf dem Stuhl herum.
»Was ich von der Annektierung unseres Landes durch die Sowjets halte?« Ich schwieg kurz und vermied es, meinem Vater in die Augen zu schauen. »Ich glaube, dass Josef Stalin brutal ist. Ich finde, wir sollten seine Truppen aus Litauen vertreiben. Sie dürfen nicht einfach kommen und nehmen, was sie wollen, und …«
»Genug, Lina. Lass die Kanne hier und geh zu deiner Mutter in die
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