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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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Küche.«
»Aber es stimmt!«, sagte ich noch. »Es ist unrecht.«
»Das reicht jetzt!«, sagte mein Vater.
Ich ging in Richtung Küche, blieb dann aber im Flur stehen, um zu lauschen.
»Ermutige sie nicht auch noch, Vladas. Das Mädchen ist so dickköpfig, dass ich es manchmal mit der Angst bekomme«, sagte Papa.
»Nun ja«, erwiderte der Journalist. »Dann wissen wir jetzt, dass sie nach ihrem Vater kommt. Du hast eine richtige Partisanin großgezogen, Kostas.«
Papa blieb stumm. Das Treffen ging zu Ende, und die Männer verließen in unregelmäßigen Abständen unser Haus, einige durch die Vordertür, andere durch die Hintertür.
    »Universität?«, sagte der Glatzkopf, der sich immer noch vor Schmerzen krümmte. »Dann ist er längst tot.«
    Mein Magen krampfte sich zusammen, als hätte mich jemand in den Bauch geschlagen. Jonas sah Mutter verzweifelt an.
    »Ich arbeite in der Bank und habe euren Vater heute Nachmittag noch gesehen«, sagte ein Mann und lächelte Jonas an. Ich wusste, dass er log. Mutter nickte ihm dankbar zu.
    »Dann war er auf dem Weg zu seinem Grab«, brummte der mürrische Glatzkopf.
    Ich starrte ihn an und fragte mich, wie viel Kleister man brauchte, um seinen Mund zuzukleben.
    »Ich bin Briefmarkensammler. Nur ein Briefmarkensammler. Und sie schicken mich in den Tod, weil ich mit anderen Sammlern überall auf der Welt korrespondiere. Jemand von der Universität steht sicher ganz oben auf der Liste der …«
    »Seien Sie still!«, entfuhr es mir.
    »Lina!«, sagte Mutter. »Entschuldige dich, aber sofort. Dieser arme Herr hat schreckliche Schmerzen. Er weiß nicht, was er redet.«
    »Ich weiß genau, wovon ich rede«, erwiderte der Mann und starrte mich an.
    Da öffnete sich die Krankenhaustür. Drinnen erschallte ein lauter Schrei. Ein NKWD-Mann zog eine barfüßige Frau im blutbeschmierten Krankenkittel die Treppe hinunter. »Mein Kind! Bitte tut meinem Kind nicht weh!«, kreischte sie. Dann kam ein weiterer NKWD-Mann mit einem in Tücher gehüllten Bündel heraus. Ein Arzt eilte herbei und hielt den Mann fest.
    »Bitte nicht den Säugling. Er wird nicht überleben!«, schrie der Arzt. »Ich bitte Sie, mein Herr. Bitte!«
    Der NKWD-Mann drehte sich zu dem Arzt um und trat ihn mit dem Hacken gegen die Kniescheibe.
    Man hob die Frau auf den Lastwagen. Mutter und Fräulein Grybas wichen zurück, um neben dem Glatzkopf Platz zu machen. Dann wurde das Kind hinaufgereicht.
    »Nimm es bitte, Lina«, sagte Mutter und gab mir den rotgesichtigen Säugling. Ich nahm das Bündel und spürte sofort, wie die Wärme des kleinen Körpers meinen Mantel durchdrang.
    »Oh, mein Gott! Bitte! Mein Kind!«, wimmerte die Frau und sah zu mir auf. »Bitte retten Sie mein Kind!«
    Das Kind schrie leise auf und fuchtelte mit seinen winzigen Fäusten. Sein Kampf um das Leben hatte begonnen.

6
    Der Bankangestellte gab Mutter seine Jacke. Sie legte sie der Frau um die Schultern und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
    »Nur keine Sorge«, sagte Mutter zu der jungen Frau.
    »Vitas. Sie haben Vitas, meinen Mann, verschleppt«, hauchte sie.
    Ich betrachtete das kleine rote Gesicht des in Tücher gehüllten Kindes. Dieses Neugeborene war erst wenige Minuten alt und wurde von den Sowjets schon als kriminell eingestuft. Ich drückte es an mich und küsste es auf die Stirn. Jonas lehnte sich gegen mich. Wenn man einem Säugling so etwas antat, was würde man dann uns antun?
    »Wie heißt du, meine Liebe?«, fragte Mutter.
    »Ona.« Die junge Frau reckte den Hals. »Wo ist mein Kind?«
    Mutter nahm mir das Kind ab und legte es der Frau an die Brust.
    »Oh, mein Kindchen. Mein kleiner Schatz«, rief die Frau und bedeckte es mit Küssen. Da fuhr der Lastwagen ruckartig an, und sie sah flehentlich zu Mutter auf.
    »Mein Bein!«, jammerte der Glatzkopf.
    »Gibt es hier einen Arzt?«, fragte Mutter und ließ ihren Blick über die Gesichter gleiten. Die Leute schüttelten den Kopf. Manche sahen nicht einmal auf.
    »Wir könnten das Bein schienen«, sagte der Bankangestellte. »Hat jemand einen geraden Gegenstand? Wir müssen uns gegenseitig helfen.« Die Leute rutschten auf ihren Plätzen hin und her, überlegten, was in ihren Taschen war.
    »Hier, mein Herr«, sagte der hinter mir sitzende Jonas und hielt ihm sein kurzes Lineal aus der Federmappe hin. Die alte Frau, die beim Anblick meines Nachthemds entsetzt gekeucht hatte, begann zu weinen.
    »Vielen Dank«, sagte der Mann und nahm das Lineal.
    »Danke, mein Schatz«, sagte
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