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Ein silbernes Hufeisen

Ein silbernes Hufeisen

Titel: Ein silbernes Hufeisen
Autoren: Melanie Barbera
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1 November
     
     
    „Ich werde sterben,“ klagte Guinievaire Hastings unruhig und sah sehnsüchtig auf den festen Boden, der ihr unerträglich weit entfernt schien. Napoléons Hufe schlugen in einem rhythmischen Takt auf die nassen Kopfsteine. Es regnete viel in letzter Zeit, aber es schneite noch nicht, seltsamerweise, denn es war schrecklich kalt. Die Menschen auf den Straßen trugen ihre silbernen Pelzmäntel spazieren und sahen dabei aus wie gefährliche Raubtiere. Vermutlich bildete sie es sich nur ein, aber Guinievaire hatte das Gefühl, sie würden sie beobachten, sie und ihren Begleiter, der neben ihr auf seinem Pferd thronte als täte er niemals etwas anderes, was im Grunde sogar auf ihn zutraf. Er trug keinen Pelz, sondern seine schrecklich schäbige Jacke, aber dennoch gelang es ihm auf wundersame Weise dabei gut auszusehen. Sie fragte sich oft, wie ihm dieses unverschämte Kunststück glückte: er hatte sperriges, unbezähmbares Haar und sein Geschmack, was seine Kleidung betraf, war nicht vorhanden bis hin zu grausig, aber dank seiner täglichen, harten Arbeit hatte er zugleich auch kräftige Schultern und wirkte robust und gesund, hatte große, ehrliche, braune, treue Augen, die ihr gefielen, und auch wenn seine Züge nicht perfekt symmetrisch waren, so hatte er doch eine Art Aura, ein unsichtbares Etwas, das ihn umgab und das ihn sehr gut aussehen ließ, selbst wenn er eigentlich nicht gut aussehend war.
    Während Guinievaire ihren Reitlehrer genauer musterte, wurde ihr wieder bewusst, dass sie sich natürlich nur einbildete, dass man sie anstarrte. Niemand in ganz London würde jemals Verdacht schöpfen, was sie und ihn anbelangte. Denn die Einwohner dieser Stadt hatten inzwischen, nach zwei Jahren, ein recht genaues Bild von ihr – immerhin sprach man viel und gerne über sie, ob sie nun anwesend war oder nicht – und niemand traute ihr, Guinievaire Hastings, zu, dass sie mit Anthony Ford ausging, geschweige denn, dass sie sich heimlich mit ihm verlobt hatte. Von Guinievaire war man nur das Beste gewohnt: was sie trug, kam in Mode, wo sie hinging, tummelten sich am nächsten Tag unerträglich viele Nachahmer. Jeder glaubte, sie zu kennen, und keiner von ihnen tat es, und deswegen wusste auch niemand, dass Guinievaire ernsthaft vorhatte, den Mann, der neben ihr ritt, zu heiraten, wenn möglich sogar schon bald. Er hatte sie gefragt, ob sie seine Frau werden wollte, sie hatte Ja gesagt. Es war ganz leicht gewesen bis eben zu diesem Punkt hin. Und nun lagen wesentlich schwierigere Zeiten vor ihnen.
    Bisher wusste kaum jemand von ihrer Verlobung, bis auf Guinievaires beste Freundin und Anthonys Vater, was natürlich wohl durchdachte Gründe hatte: Guinievaire und Anthony waren nicht eben das ideale Paar. Sie war eine Hastings, damit entstammte sie einer uralten Familie, eine Tatsache, auf die ihr Vater sehr gerne beharrte, selbst wenn die Popularität dieses Namens in den letzten Generationen merklich abgenommen hatte. Sie waren dennoch beinahe adelig, beinahe königlich, reich, fest verwurzelt in den Strukturen dieser Stadt, und Guinievaire war die einzige Tochter und – wenn auch nur nach außen hin – das funkelnde Juwel der Familie. Sie hatte einen älteren Bruder, aber der war ein Nichtsnutz. Sie hingegen war eine hervorragende Tänzerin, sprach vier Sprachen, hatte exzellente Manieren und war hübsch anzusehen. Die großen Hoffnungen ihres Vaters ruhten also alleine auf ihr – sie sollte eine Partie machen, die die Menschen endlich die vergangenen Skandale vergessen ließ, um wieder den Glanz dieser Familie zu sehen. Sie sollte einen Mann erobern wie es keinen Zweiten in London gab, er musste unendlich reich sein und dabei selbst sehr adelig und charmant und beliebt und einflussreich, damit ihr Vater wirklich zufrieden mit ihr war. Und Tony war leider nur Ersteres.
    Er seufzte schwer ob ihres Kommentars, aber zugleich musste er doch ein wenig lächeln. „Unsinn,“ tröstete er sie. „Du schlägst dich großartig.“
    Er log natürlich, aber Guinievaire war bereit, ihm zu verzeihen, denn erstens war sie selbst nicht sonderlich versessen auf Ehrlichkeit und zweitens schätzte sie an Tony eben jene Seiten, die ihn dazu brachten, sie derart offensichtlich anzulügen: er war freundlich und rücksichtsvoll und gütig und außerdem geduldig. Seit Monaten versuchte er nun bereits, sie das Reiten zu lehren und selbst jetzt, wo sie doch zahllose Male unter Beweis gestellt hatte, dass sie es nicht
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