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Die Stimme des Blutes

Titel: Die Stimme des Blutes
Autoren: Catherine Coulter
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PROLOG
    In der Nähe der Grainsworth-Abtei März 1275
    Daria wünschte sich Schnee. Der Himmel hing schon voller dunkler Wolken. Doch im Laufe des Nachmittags wurde es nur kälter. Der Wind pfiff durch die wenigen kahlen Eichen, die die schmale Straße säumten. Aber es wollte nicht schneien.
    Sie kuschelte sich tiefer in ihren mit Hermelin gefütterten Mantel. Unbeirrt stapfte ihre Stute Henrietta vorwärts. Alle paar Minuten drehte sich Drake, der Waffenmeister Lord Damons, nach ihr um. Er wollte sich vergewissern, daß sie noch gehorsam hinter ihm herritt und nicht etwa unbemerkt geflohen war. Drake war kein böser oder gemeiner Mensch. Aber als Untergebener ihres Onkels führte er die Befehle seines Herrn ohne Zögern oder Rückfragen bedingungslos aus. Es wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen, das Recht seines Herrn anzuzweifeln, der mit seiner Nichte nach Gutdünken verfahren konnte. Sie war ja nur ein Weib und hatte daher keinen Einfluß auf die Entschlüsse, die über sie verfügt wurden.
    Das alles war Daria bisher noch nicht so stark zu Bewußtsein gekommen. Als Kind war sie selten mit den Befehlen ihres Onkels konfrontiert worden. Jetzt waren es jedoch so viele geworden, daß sie oft den Wunsch verspürte, sich zu verkriechen und zu sterben. Allerdings war sie halt auch kein Kind mehr. Das war ihrem Onkel nicht entgangen, und er verhielt sich danach. Ein Mädchen wechselte aus den Händen ihres Vaters - oder in ihrem Fall ihres Onkels - in die ihres Gatten. Von dem einen zum anderen. Erst Besitz des einen, dann Besitz des anderen. Ohne eigene Wahl, ohne Einspruchsmöglichkeit. Was der Mann anordnete, hatte zu geschehen.
    Vor ihrem geistigen Auge sah Daria ihren Onkel wieder in seinem Schlafzimmer. Sie hörte seine tiefe, gleichgültig klingende Stimme die Worte so deutlich sprechen, als wäre es heute und nicht vor einem Monat gewesen. In Wirklichkeit war er, dachte sie, keineswegs gleichgültig gewesen. Er hatte sich nur so gestellt. Hatte sich darauf gefreut, sie zu demütigen und ihr zu sagen, welche Pläne er für sie hegte. Nein, ihr Onkel war in seiner Grausamkeit nie gleichgültig. Er weidete sich an den Qualen seiner Opfer.
    Er hatte in dem mit Fellen bedeckten Bett gesessen. Neben ihm nackt Cora, eine der Bedienerinnen auf der Burg. Als Daria hereinkam, hatte sich Cora kichernd tiefer gleiten lassen und den weißen Kaninchenpelz über die nackten Schultern gezogen. Ihn schien es nicht zu kümmern, daß er vor seiner Nichte nackt mit seiner Geliebten im Bett saß. Selbstverständlich hatte er es extra so arrangiert. Daria hatte kein Wort gesagt, sondern geduldig abgewartet, daß er ihr mitteilte, warum er sie hatte holen lassen. Auch er schwieg einige Zeit und streichelte nur gedankenverloren über Coras Schulter.
    Daria war sich klar, daß er das alles eigens für sie inszeniert hatte. Er wollte ihr zeigen, daß eine Frau Wachs in den Händen des Mannes zu sein hatte.
    Daria schloß die Augen. Gefühle wie Haß, Abscheu und Hilflosigkeit beherrschten sie wie schon so oft. Sie verabscheute ihren Onkel, was er wohl wußte. Vermutlich amüsierte er sich sogar über ihren schweigenden Haß. Was wollte er von ihr? Daß sie ihn anschreien sollte, um sich dann doch weinend, erniedrigt und voller Scham vor ihm zu beugen? Sie stand ganz still da. Sie hatte gelernt, in schweigender Geduld zu warten. Und ebenso unbeweglich war ihre Miene.
    Plötzlich schien er des Spiels müde zu sein. Er zog die Felle höher über Cora und befahl ihr, sich umzudrehen und den Mund zu halten. Ohne den Blick von seiner Nichte zu wenden, bemerkte er zu Cora: »Ich kann dein dummes Gesicht nicht mehr sehen.«
    Schließlich sagte Daria in ruhigem Ton: »Du hast mich gerufen.«
    »Ja, so ist es. Daria, du bist vor zwei Monaten 17 geworden, bist also längst eine erwachsene Frau. Meine kleine Cora hier ist erst 15 und schon ein erwachsenes Weib. Eigentlich solltest du bereits einen Säugling an deinen Brüsten stillen wie die meisten Frauen deines Alters. Ja, ich habe dich viel zu lange hier behalten. Aber ich mußte abwarten, bis ich den geeigneten Bewerber gefunden habe. Spätestens im nächsten Monat wirst du einen Ehemann haben, der sich bestimmt mit Begeisterung an deinem Körper vergnügt.«
    Sie erblaßte unwillkürlich und wich zurück.
    Er lachte. »Möchtest du denn nicht gern einen Ehemann haben, Nichte? Oder sind dir alle Männer zuwider? Möchtest du dich denn nicht meiner Fuchtel entziehen und Herrin auf einer
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