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Der gestohlene Traum

Der gestohlene Traum

Titel: Der gestohlene Traum
Autoren: Alexandra Marinina
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ERSTES KAPITEL
    »Stopp, Stopp! Aufhören! So geht das nicht.«
    Der Regieassistent klatschte gereizt in die Hände und wandte sich an die junge Frau, die neben ihm saß.
    »Siehst du?«, sagte er enttäuscht. »Diese jungen Schönheiten sind zu den einfachsten Dingen nicht fähig. Manchmal verzweifle ich und kann nicht mehr glauben, dass aus dem Stück noch etwas wird. Welche Rolle sie auch spielen, jede bemüht sich nur darum, so groß wie möglich herauszukommen. Larissa!«
    Ein groß gewachsenes, schlankes Mädchen in einem schwarzen Trikot trat näher und ließ sich graziös auf dem Bühnenrand nieder. Sie zog ein Bein an die Brust, das andere ließ sie nach unten baumeln.
    »Wer bist du, Larissa?«, fragte Grinewitsch streng. »Du spielst einen Mischlingshund, der die Frucht einer verbotenen Liebe zwischen einem Foxterrier und einer Malteserhündin ist. Du musst verspielt, freundlich, liebebedürftig und ein wenig hektisch sein. Aber vor allem musst du dich klein machen. Kurze Schritte und keinerlei große Gesten. Aber du gebärdest dich wie ein russischer Windhund. Wozu machst du das? Um deine großartige Figur besser zur Geltung zu bringen? Wir sind hier nicht bei einem Schönheitswettbewerb, meine Liebe, deine Figur tut hier nichts zur Sache. Ich möchte einen kleinen, unbedeutenden Mischlingshund sehen und nicht deinen aufregenden Busen. Ist das klar?«
    Larissa hörte dem Regieassistenten stirnrunzelnd zu und wippte dabei aufreizend mit ihrem hübschen Bein.
    »Kann ich etwas dafür, dass ich eine Brust habe? Soll ich sie mir vielleicht abschneiden lassen, um diesen Hund zu spielen?«, gab sie scharf zurück.
    »Ich kann dir sagen, was du tun musst«, sagte Grinewitsch begütigend. »Du musst aufhören, dir selbst ständig gefallen zu wollen. Das ist das ganze Geheimnis. Mach dich wieder an die Arbeit.«
    Larissa erhob sich langsam und entfernte sich wieder. Alles, was sie in diesem Moment über den Regieassistenten Gena Grinewitsch dachte, stand gleichsam in flammenden Lettern auf ihrem schönen Rücken geschrieben, während die aufreizenden Bewegungen ihrer runden Hüften und schmalen Schultern diesem vernichtenden Text die Satzzeichen hinzuzufügen schienen. Du bist genau der Richtige, um gute Ratschläge zu erteilen, sollte das alles heißen, schau dich lieber selber an, du aufgeblasener, eitler Kerl.
    Grinewitsch wandte sich erneut seiner Gesprächspartnerin zu.
    »Was denkst du, Anastasija, ist das alles vielleicht verlorene Liebesmüh? Ich habe schon an der Schauspielschule davon geträumt, ein Stück über Hunde zu machen. Diese Idee hat mich ständig verfolgt und nie losgelassen. Schließlich habe ich einen Autor gefunden, den ich überreden konnte, ein entsprechendes Stück zu schreiben. Danach habe ich ihn fast auf Knien angefleht, es so umzuschreiben, wie ich es haben wollte. Anschließend habe ich mit Engelszungen geredet, um den Regisseur von diesem Stück zu überzeugen. Ich habe so viel Zeit und Kraft in diese Sache investiert. Und jetzt stellt sich heraus, dass die jungen Schauspieler unfähig sind, ihre Rollen zu spielen.«
    »Bist du dir sicher?«, fragte Anastasija Kamenskaja, die die Probe von Anfang an mitverfolgte, skeptisch. »Ich verstehe, was dich beunruhigt, aber das, was du meinst, kann man nicht lernen, das kann man sich nur durch Lebenserfahrung aneignen. Da kann kein Regisseur und kein Pädagoge helfen. Die Schauspieler müssen aufhören, sich selbst gefallen zu wollen, sie müssen ihr Äußeres vergessen, ihre Individualität, aber im Grunde ist das widernatürlich. Wenn du dir die Mühe machen würdest, ein paar Psychologiebücher zu lesen, würde dir klar werden, dass die völlige Negierung der eigenen Vorzüge und Werte ein Anzeichen für psychische Krankheit ist. Ein normaler, gesunder Mensch muss sich selbst lieben und achten. Natürlich muss das in einem vernünftigen Rahmen bleiben und darf nicht in Egozentrik ausarten. Du möchtest, dass die Schauspieler jenseits der Bühne Persönlichkeiten mit all ihren Vorzügen und Nachteilen sind, aber sobald sie hinter den Kulissen hervortreten, sollen sie sich in Knetmasse verwandeln, aus der man Beliebiges formen kann. Ist es das, was du erreichen möchtest? Dann rate ich dir, einen Psychologen zur Arbeit hinzuzuziehen.«
    »Ja . . . kann sein. . . vermutlich hast du Recht«, murmelte Grinewitsch unsicher.
    Nastja war keine Schauspielerin und hatte von Berufs wegen keinerlei Beziehung zum Theater. Mit Gena Grinewitsch hatte
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