Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Wuestenhaus

Titel: Das Wuestenhaus
Autoren: Gernot Wolfram
Vom Netzwerk:
1
    Der Anruf
    Am Mittag war der Anruf gekommen. Er nahm den Hörer ab und fragte, mit wem er spreche, ohne sofort eine Antwort zu erhalten.
    Die zögerliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung war leise, und dennoch war jedes ihrer Worte in der Folge so klar und deutlich zu verstehen, als würden sie ihm ins Ohr geflüstert. Die Frau sprach mit kurzen, stockenden Pausen. Ihre Stimme war weder aufgeregt noch selbstsicher. Ein vorsichtiges Tasten nach seiner Aufmerksamkeit war in ihr zu hören, ohne jene heimlichen Geräusche der Provokation oder Überredung, die ihm von unzähligen Anrufen ähnlicher Art vertraut waren.
    »Es hat lange gedauert, ehe ich mich entschieden habe, Sie anzurufen.«
    Es war sonderbar, wenn jemand am Telefon so leise sprach. Das hatte den Charakter von Zweideutigkeiten, denen man in seinem Beruf unbedingt aus dem Weg gehen musste. Das Gespräch - war es überhaupt eines? - erschien ihm wie ein geschickter Versuch, seine gewöhnliche Reaktion in solchen
Momenten - den Hörer einfach aufzulegen - auf die Probe zu stellen und binnen kürzester Zeit verborgene Schichten seiner Neugierde zu wecken. Währenddessen begann draußen jemand auf einen Rollwagen gestapelte Kisten über den Hof zu schieben. Tauben flogen auf. Das helle Geräusch kräftigen Flügelschlagens drang durch das halb geöffnete Fenster. Das Licht bewegte sich wie in winzigen treibenden Wasserbläschen auf seinem Schreibtisch, schließlich fiel sein Stift durch eine ungeschickte Handbewegung zu Boden.
    »Kann ich Sie heute Nachmittag treffen, in einem Café in der Nähe der Bornholmer Brücke? Es heißt ›Berghaus‹. Glauben Sie mir, es ist sehr wichtig für mich.«
    »Es tut mir leid, aber wenn Sie mir nicht sagen, um was es geht, können wir uns nicht treffen.«
    Dabei ging ihm durch den Kopf, wie merkwürdig es war, wenn jemand mitten im Gespräch »Glauben Sie mir« sagte . Das war eine Formulierung, die er von Leuten kannte, die älter als fünfunddreißig waren und die es nötig hatten, plötzlich zu drängen und hektisch zu werden, untergründig an Emotionen zu appellieren, die etwas mit Zweifel und Unruhe zu tun hatten.
    Er wollte sich schon verabschieden, da sagte die Frau: »Bitte legen Sie nicht auf.«
    Für einen Moment verließ ihn der Verdacht, es sei einer der Anrufe, die er so gut kannte. Andeutungen, halbe Informationen, und am Ende hieß
es, Ich habe da ein Dokument, das Herrn X oder Frau Z entlarvt, billige, von niedrigen Beweggründen ausgelöste Denunziationen, mit denen nichts anzufangen war. Das Bitten um die Zeit desjenigen, der überrumpelt und überredet werden sollte, klang jedoch in den meisten Fällen anders, gespielter und unterwürfiger.
    »Es geht um Sie und um den Tod meiner Eltern. Wir kennen uns von einer Reise.«
    Ein Moment angespannter Stille trat ein. Er war erstaunt, sich selbst antworten zu hören: »In Ordnung, eine halbe Stunde, nicht länger.«
    Mechanisch, wie er es immer tat, wenn er telefonierte und sich die wichtigen Dinge notierte, hatte er Stichwörter auf einen Block gekritzelt. Den Namen des Cafés, die Uhrzeit, das Wort »Eltern«, daneben ein Kreuz, das ihm beim Überfliegen des Zettels lächerlich und obszön vorkam.
    Im Grunde hatte er nichts über die Frau erfahren.
    Er war überzeugt, dass sie ihn mit dem Satz zu überrumpeln versuchte. Was hatte er mit dem Tod der Eltern einer ihm gänzlich unbekannten Frau zu tun? Nicht mal nach ihrem Namen hatte er gefragt. Doch der Satz »Es geht um Sie und um den Tod meiner Eltern« berührte ihn auf sonderbare Weise. Er besaß etwas Unheimliches. Er setzte sich im Gedächtnis fest, als verfüge er über kleine Widerhaken, zumal er so merkwürdig in Erscheinung getreten war. Er sah auf den Zettel, malte um das Kreuz einen schiefen Kasten und schüttelte den Kopf.

    Vielleicht war es die Ruhe der letzten Tage, die ihn so gedankenlos zustimmen ließ. Der Sommer hatte dieses Jahr etwas Stickiges. Wenn er morgens sein Büro betrat, öffnete er rasch die Fenster. Der Blick auf die Bäume des Innenhofes und die großen Küchenfenster des gegenüberliegenden Restaurants, die ebenfalls auf den Hof führten, waren wie ein Vertrauensvorschuss in den Tag.
    Er ging zum Schrank und nahm das Jackett vom Bügel. Er warf noch einmal einen Blick in das Zimmer. Er wollte unbedingt das Bild von David Hockney an der Wand austauschen - die beiden in einem dichten, warmen Morgennebel laufenden Spaziergänger auf der Brücke. Er hatte sich, ohne dass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher