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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Mutter stieß uns in die Ecke, so dass wir fast auf die Frau gefallen wären.
    »Heh!«, rief die Frau und hob die Hände.
    »Oh, Verzeihung. Wir wollen nur ein wenig Platz.« Mutter zog Jonas meinen Mantel aus und hielt ihn hoch, damit man uns nicht sah. Ich zog mich schnell um und schirmte Jonas dann mit meinem Nachthemd ab.
    »Er hat gepinkelt«, sagte eines der Mädchen und zeigte auf meinen Bruder. Jonas erstarrte.
    »Du hast dich vollgepinkelt, Kleines?«, fragte ich laut. »Ach, du armes Ding.«
    Seit wir eingestiegen waren, war es im Waggon immer wärmer geworden. Ich hatte den Geruch einer schweißnassen Achsel in der Nase. Wir drängelten uns zur Tür durch, weil wir auf frische Luft hofften, stapelten unsere Koffer, und Jonas setzte sich oben darauf, das Bündel von Tante Regina im Arm. Mutter stellte sich auf Zehenspitzen und suchte den Bahnsteig nach Papa ab.
    »Bitte sehr«, sagte ein grauhaariger Mann und stellte eine kleine Kiste auf den Boden. »Stellen Sie sich darauf.«
    »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mutter dankbar.
    »Wie lange ist er schon weg?«, fragte der Mann.
    »Seit gestern«, antwortete sie.
    »Was macht er beruflich?«
    »Er ist Universitätsrektor. Kostas Vilkas.«
    »Ach, ja, Vilkas.« Der Mann nickte. Er betrachtete uns. Sein Blick war gutmütig. »Hübsche Kinder.«
    »Ja. Sie gleichen ihrem Vater«, erwiderte meine Mutter.
Wir saßen alle auf dem Samtsofa, Jonas auf Papas Schoß. Mutter trug das grüne Seidenkleid mit Schürze. Ihr goldenes Haar wellte sich über ihren Wangen, und ihre smaragdenen Ohrringe glänzten im Licht. Papa trug einen seiner neuen dunklen Anzüge. Ich hatte mich für das cremefarbene Kleid mit der braunen Seidenschärpe und für ein dazu passendes Haarband entschieden.
»Eine bildschöne Familie«, sagte der Fotograf, der seine große Kamera aufstellte. »Lina ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, Kostas.«
»Das arme Mädchen«, neckte mich Papa. »Hoffen wir, dass sich das noch ändert. Sie sollte lieber ihrer Mutter ähneln.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte ich ebenso neckisch. Alle mussten lachen. Da flammte das Blitzlicht auf.

10
    Ich zählte die Leute – sechsundvierzig, alle in einem Käfig auf Rädern eingesperrt, vielleicht sogar in einem rollenden Sarg. Ich skizzierte die Szene mit dem Finger im Dreck, wischte sie weg und begann wieder von vorn.
    Man stellte wilde Mutmaßungen über unsere Bestimmung an. Einige meinten, wir würden zum NKWD-Hauptquartier fahren, andere sagten, wir seien auf dem Weg nach Moskau. Ich ließ den Blick über die Menschen gleiten. Die Gesichter verrieten etwas über die Zukunft der jeweiligen Person. Ich sah Mut, Wut, Angst, Verwirrung. Andere hatten schon keine Hoffnung mehr. Sie hatten aufgegeben. Und ich?
    Jonas scheuchte Fliegen aus seinen Haaren und von seinem Gesicht. Mutter unterhielt sich leise mit der Frau, die den Sohn in meinem Alter hatte.
    »Woher kommt ihr?«, wollte der Junge von Jonas wissen. Er hatte welliges braunes Haar und blaue Augen. Er ähnelte einem besonders beliebten Jungen aus meiner Klasse.
    »Kaunas«, antwortete Jonas. »Und ihr?«
    »Šan č iai.«
    Wir musterten einander scheu und stumm.
    »Wo ist dein Papa?«, entfuhr es Jonas.
    »Bei der litauischen Armee.« Der Junge schwieg kurz. »Er ist schon eine ganze Weile weg.«
    Seine Mutter wirkte tatsächlich wie eine Offiziersgattin, schick und nicht an Schmutz gewöhnt. Jonas plapperte weiter, bevor ich ihm das Wort abschneiden konnte.
    »Unser Vater arbeitet an der Universität. Ich heiße Jonas. Das hier ist Lina, meine Schwester.«
    Der Junge nickte mir zu. »Ich heiße Andrius Arvydas.«
    Ich erwiderte sein Nicken und wandte den Blick ab.
    »Glaubst du, sie lassen uns raus? Nur für ein paar Minuten?«, fragte Jonas. »Dann könnte uns Papa sehen, falls er hier am Bahnhof ist. So findet er uns nie.«
    »Der NKWD erlaubt uns fast gar nichts«, erwiderte Andrius. »Ich habe gesehen, wie man jemanden zusammengeschlagen hat, der wegrennen wollte.«
    »Sie haben uns Schweine genannt«, sagte mein Bruder.
    »Hör nicht auf sie, Jonas. Sie sind die Schweine. Sie sind dumme Schweine«, sagte ich.
    »Pst! Sag das lieber nicht«, flüsterte Andrius.
    »Bist du etwa von der Polizei?«, fragte ich.
    Andrius zog die Augenbrauen hoch. »Nein. Aber ich will nicht, dass du Ärger bekommst.«
    »Mach ja keinen Ärger, Lina«, sagte Jonas.
    Ich sah zu Mutter.
    »Ich habe ihnen alles gegeben,
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