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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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was ich besaß. Ich habe ihnen weisgemacht, er wäre behindert. Ich musste lügen. Ich hatte keine andere Wahl«, flüsterte Andrius’ Mutter. »Sie hätten uns sonst getrennt. Jetzt habe ich nichts mehr, nicht einmal einen Krümel.«
    »Ich weiß«, sagte Mutter und legte der Frau eine Hand auf den Arm. »Sie hätten uns auch beinahe getrennt, und mein Junge ist erst zehn Jahre alt.«
    Onas Kind jaulte. Frau Rimas drängelte sich zu Mutter durch.
    »Sie versucht, ihr Kind zu stillen, aber es klappt nicht«, sagte Frau Rimas. »Das Kind schließt den Mund nicht richtig um die Brustwarze.«
    Die Stunden glichen endlos langen Tagen. Die Leute klagten über Hunger und Hitze. Der Glatzkopf jammerte, weil sein Bein wehtat. Andere versuchten, das Gepäck besser im Raum zu verteilen. Ich musste den Platz räumen, wo ich im Dreck auf dem Fußboden gezeichnet hatte. Also ritzte ich mit einem Fingernagel Bilder in die Wand.
    Andrius sprang aus dem Waggon, weil er pinkeln musste, wurde aber von NKWD-Männern geschlagen und wieder hineingeworfen. Wir zuckten bei jedem Schuss oder Schrei zusammen. Niemand wagte mehr, den Waggon zu verlassen.
    Irgendjemand entdeckte ein tellergroßes Loch in der Ecke, wo die starrköpfige Frau mit ihren Töchtern saß. Sie hatten das Loch verdeckt, durch das frische Luft hereinkam. Leute umringten die Frau und forderten sie auf, sich anderswo hinzusetzen. Nachdem man sie weggezerrt hatte, benutzten wir das Loch abwechselnd als Klo. Manche konnten sich nicht dazu durchringen. Die Geräusche und der Gestank ließen meinen Kopf schwirren. Ein kleiner Junge steckte seinen Kopf durch das Loch und erbrach sich.
    Frau Rimas scharte die Kinder um sich und erzählte ihnen Geschichten. Die kleinen Kinder krabbelten zu ihr. Sogar die beiden Mädchen ließen ihre mürrische Mutter sitzen und lauschten wie gebannt den fantasievollen Geschichten. Das Mädchen mit der Puppe lehnte sich gegen Frau Rimas und nuckelte am Daumen.
Wir saßen im Kreis auf dem Fußboden der Bücherei. Einer der kleinsten Jungen lag auf dem Rücken und nuckelte am Daumen. Die Bibliothekarin las mit lebhafter Stimme ein Bilderbuch vor. Ich zeichnete beim Zuhören die Helden der Geschichte in mein kleines Notizbuch. Ich zeichnete den Drachen, und mein Herz schlug plötzlich schneller. Er war lebendig. Ich spürte, wie mir sein heißer, feuriger Atem entgegenschlug und meine Haare nach hinten blies. Dann zeichnete ich die fliehende Prinzessin, deren wunderschönes goldenes Haar vor der Bergflanke tanzte …
»Lina? Können wir gehen?«
Ich sah auf. Die Bibliothekarin stand über mir. Alle anderen Kinder waren schon weg.
»Geht es dir gut, Lina? Du bist ja ganz rot im Gesicht. Ist dir schlecht?«
Ich schüttelte den Kopf und hielt ihr meinen Notizblock hin.
»Oh, wie schön, Lina. Hast du das gemalt?« Die Bibliothekarin griff nach dem Block.
Ich nickte lächelnd.

11
    Die  Sonne ging unter. Mutter flocht mein welliges, verschwitztes Haar. Ich versuchte, die Stunden zu zählen, die wir bis jetzt in diesem Gefängnis verbracht hatten, und fragte mich, wie viele wir noch vor uns hatten. Die Leute verzehrten das mitgebrachte Essen. Die meisten gaben etwas ab. Manche nicht.
    »Hast du das Brot mitgenommen?«, fragte Mutter.
    Ich schüttelte den Kopf. Ob das Brot noch auf meinem Schreibtisch lag? »Ich habe es nicht«, erwiderte ich.
    »Verstehe«, sagte Mutter, die gerade Ona etwas zu essen bringen wollte. Sie verzog enttäuscht die Lippen.
    Andrius saß da, die Beine vor die Brust gezogen, und rauchte eine Zigarette. Er starrte mich an.
    »Wie alt bist du?«, fragte ich.
    »Siebzehn.« Er sah mich unverwandt an.
    »Und wie lange rauchst du schon?«
    »Bist du etwa von der Polizei?«, sagte er und sah weg.
    Die Nacht brach an. In unserer Holzkiste war es dunkel. Mutter meinte, wir könnten dankbar sein, dass sie die Tür offen gelassen hatten. Aber ich hatte keine Lust, dem NKWD für irgendetwas zu danken. Alle paar Minuten hörte ich die Stiefeltritte vorbeimarschierender Wachen. Ich fand keinen Schlaf. Ich fragte mich, ob der Mond am Himmel stand und wie er aussehen mochte. Laut Papas Worten glaubten die Wissenschaftler, dass die Erde vom Mond aus gesehen blau war. In dieser Nacht glaubte ich das auch. Ich würde die Erde blau malen, mit vielen Tränen drumherum. Wo war Papa? Ich schloss die Augen.
    Irgendjemand rempelte mich an. Ich öffnete die Augen. Im Waggon war es heller. Andrius ragte über mir auf und stieß mich mit der
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