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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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beide zu Boden. Er schwenkte sein Gewehr vor unseren Gesichtern, brüllte auf Russisch. Ich kauerte mich an Jonas und starrte den Gewehrlauf an. Ich schloss die Augen. Bitte nicht . Er trat Schotter gegen unsere Beine, schrie »Dawai!« und zeigte auf den Waggon.
    Mutter war aschfahl im Gesicht. Dieses Mal konnte sie ihre Angst nicht verbergen. Ihre Hände zitterten und ihr Atem ging stockend. »Er hätte euch erschießen können!«
    »Wir sind wohlauf, Mutter«, verkündete Jonas. Dann sagte er mit bebender Stimme: »Wir haben Papa gesucht.«
    »Wo steckt Andrius?« Frau Arvydas schaute über unsere Schultern.
    »Er ist mitgekommen«, antwortete ich.
    »Ja. Aber wo ist er jetzt ?«, fragte sie barsch.
    »Er wollte seinen Vater suchen«, sagte ich.
    »Seinen Vater?« Sie seufzte tief. »Warum glaubt er mir denn nicht? Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass sein Vater …« Sie wandte sich ab und begann zu weinen.
    Mir wurde bewusst, dass ich einen schweren Fehler begangen hatte. Ich hätte Andrius nicht zurücklassen dürfen.
    »Wir haben ihn gefunden, Mutter. Wir haben Papa gefunden«, sagte Jonas.
    Plötzlich umringten uns Leute. Sie wollten wissen, wie viele Männer im anderen Zug waren und ob wir ihre Angehörigen gesehen hatten.
    »Er glaubt, dass wir nach Sibirien fahren«, berichtete Jonas. »Und er hat uns Schinken gegeben. Wir haben drei Stücke gegessen, aber wir haben dir eines aufgehoben. Gib Mutter den Schinken, Lina.«
    Ich griff in die Tasche und reichte Mutter den Schinken.
    Da sah sie den Ring an meinem Daumen.
    »Falls du Geld brauchst«, erklärte ich. »Er hat gesagt, dass du ihn verkaufen kannst.«
    »Und dass du an die Eiche denken sollst«, ergänzte Jonas.
    Mutter zog den Ring von meinem Daumen und drückte ihn gegen ihre Lippen. Sie begann zu weinen.
    »Nicht weinen, Mutter«, sagte Jonas.
    »Mädchen!«, schrie der Glatzkopf. »Hast du noch etwas zu essen mitgebracht?«
    »Gib den Schinken Herrn Stalas, Lina«, sagte Mutter mit erstickter Stimme. »Er ist hungrig.«
    Herr Stalas. Der Glatzkopf hatte also einen Namen. Ich ging zu ihm. Seine faltigen Arme waren von blauen Flecken bedeckt. Ich reichte ihm den Schinken.
    »Der ist für deine Mutter«, sagte er. »Was hast du noch?«
    »Mehr hat er mir nicht gegeben.«
    »Aus wie vielen Waggons besteht der Zug?«
    »Ich weiß es nicht genau«, antwortete ich. »Es sind ungefähr zwanzig.«
    »Und er meint, wir fahren nach Sibirien?«
    »Ja.«
    »Euer Vater könnte Recht haben«, sagte er.
    Mutter hörte auf zu weinen. Ich bot ihm wieder den Schinken an.
    »Er gehört deiner Mutter«, sagte der Glatzkopf. »Sorg dafür, dass sie ihn isst. Ich mag sowieso keinen Schinken. Und jetzt lass mich in Ruhe.«
    »Andrius wollte nicht mitkommen«, erklärte mein Bruder Frau Arvydas. »Er hat sich mit Lina gestritten, und dann hat er gesagt, dass er noch ein paar Waggons abklappern will.«
    »Wir haben uns nicht gestritten«, unterbrach ich ihn.
    »Wenn sie ihn erwischen und herausfinden, dass er der Sohn eines Offiziers ist …«, sagte Frau Arvydas. Sie schlug ihre Hände vor das Gesicht.
    Der grauhaarige Mann schüttelte den Kopf und zog seine Uhr auf.
    Ich fühlte mich schuldig. Warum war ich nicht bei Andrius geblieben oder hatte darauf bestanden, dass er mitkam? Ich sah aus dem Waggon, in der Hoffnung, ihn zu entdecken.
    Zwei Sowjets schleiften einen Priester über den Bahnsteig. Seine Hände waren gefesselt, seine Soutane war schmutzig. Warum ein Priester? Aber andererseits … warum wir?

13
    Die Sonne stieg höher, und im Waggon wurde es immer heißer. Der feuchte Gestank nach Kot und Urin hing über uns wie eine schmutzige Decke. Andrius war noch nicht wieder da, und Frau Arvydas weinte so bitterlich, dass ich es mit der Angst bekam. Ich fühlte mich so schuldig, dass mir schlecht war.
    Dann kam ein Wachmann zum Waggon und reichte einen Eimer mit Wasser und einen Eimer mit Brei herauf.
    Alle drängten zu den Eimern. »Wartet«, sagte Fräulein Grybas, als würde sie ihrer Schulklasse Anweisungen geben. »Jeder darf nur ein bisschen nehmen, damit alle etwas davon haben.«
    Der Brei sah aus wie gräuliches Viehfutter. Einige Kinder weigerten sich, ihn zu essen.
    Jonas erinnerte sich an das Päckchen von Mutters Cousine Regina. Es enthielt eine kleine Decke, eine Wurst und einen Topfkuchen. Mutter teilte das Essen auf und gab jedem ein kleines Stück ab. Der Säugling schrie weiter. Ona wand sich und stimmte in das Geschrei ihrer kleinen Tochter
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