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Neva: Tag der Befreiung

Neva: Tag der Befreiung

Titel: Neva: Tag der Befreiung
Autoren: Sara Grant
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Befreiungstag
    Ruths Badezimmer sah aus, als sei ein Regenbogen explodiert. Spritzer von roter, oranger, grüner und lila Farbe leuchteten auf den gesprungenen Kacheln und dem weißen Porzellan des Waschbeckens.
    »Auf drei«, sagte Ruth und sah ihre Freundinnen nacheinander an. Alle hatten die graubraunen Handtücher auf dem Kopf zu Turbanen gewunden, und, da ihre Gesichter frei von Make-up waren, unterschieden sie sich kaum voneinander. Große braune Augen. Schmale, gerade Nasen und volle Lippen.
    In Ruths Augen war Lucy die Kurvige von ihnen. Sie besaß ein rundes Gesicht und volle rosige Wangen, die zu ihrer Sanduhrfigur passten. Barbara dagegen war groß und schlank. Normalerweise waren ihre Augen großzügig mit leuchtendem Lidschatten umrandet, der sich bis zum Haaransatz hochzog, so dass es wie eine Maske aussah. Patty war durchtrainiert. Die definierten Muskeln verliehen ihr etwas Herbes. Sie lief und schwamm und konnte sich beim Sport sogar mit den Jungs messen. Sich selbst stufte Ruth als durchschnittlich ein: Sie war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, weder schön noch hässlich. Wenn man sie fragte, was sie an sich am liebsten mochte, nannte sie ihren linken Zeigefinger. Er war lang, und der Nagel brach oder splitterte praktisch nie.
    Und Ruth hatte Feuer. Man sah es in ihren Augen. Hörte es in ihrer Stimme. Es umgab sie wie eine Aura.
    »Seid ihr so weit?«, fragte sie. Die Mädchen nickten und brachen dann in nervöses Gekicher aus.
    »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du uns dazu überredet hast«, sagte Patty. »Und wieso kriege ausgerechnet ich das Orange?«
    »Das wird bestimmt ganz toll«, quiekte Lucy und hüpfte auf den Zehenspitzen.
    »Was Ben wohl denken wird?«, fragte Barbara träumerisch.
    »Gefärbtes Haar allein wird uns wohl kaum interessant für ihn machen.« Ruth tätschelte das Handtuch auf ihrem Kopf. »Ich meine, er ist ja quasi Heimatland-Adel. Einer seiner Ahnen war Dr. Benjamin L. Smith.« Ein kollektiver Seufzer ertönte. »Kommt, Leute, ihr habt wenigstens Vorfahren, die im Terror gestorben sind. Aber ich? Welche Chancen hat man mit einem Nachnamen wie Laverne, dass sich ein respektabler Junge für einen interessiert?« Wie immer stieg ihr augenblicklich ein Klumpen in die Kehle. Wenn sie genug Witze darüber machte, gelang es ihr manchmal, sich einzureden, dass es vielleicht nicht stimmte. Aber tief in ihrem Inneren war sie davon überzeugt, dass es ihr Schicksal war, allein zu bleiben. »Oh, na ja, wen kümmert’s schon, was ein Junge denkt?«
    Ihre Freundinnen starrten sie mit großen Augen an, als hätte sie behauptet, dass es ein Leben außerhalb der Protektosphäre gäbe. Oder etwas ähnlich Albernes.
    »Und wer braucht sie überhaupt?«, sagte sie mit noch weniger Überzeugung. »Wenn ich achtzehn bin und meinen Abschluss habe, gehe ich sowieso zur Küste und werde Schriftstellerin.«
    Nun kamen zu den großen Augen auch noch hochgezogene Brauen. »Ich habe gehört, dass die Regierung vorhat, das Alter für den Abschluss runterzusetzen, so dass wir schon ein Jahr früher fertig sind«, sagte Patty und schluckte. Ruth glaubte sogar Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen. »Hoffentlich stimmt das nicht. Ich will einfach noch nicht jetzt schon wie meine Eltern in der Textilfabrik arbeiten.«
    »Ich habe nichts gegen ein Jahr weniger Schule.« Barbara wirbelte herum, als ob sie für ihren Hochzeitstanz übte. »Dann kann ich auch ein Jahr früher Ben heiraten.«
    »Willst du denn nicht, na ja, etwas aus deinem Leben machen …?« Patty ließ den Satz verklingen, als sie Barbaras gekränkte Miene sah.
    Lucy beendete das unbehagliche Schweigen. »Also, ich finde Heiraten zwar klasse, aber ich möchte lieber aufs College. Noch will ich einfach nicht Mrs. Soundso sein.«
    Die Mädchen sahen sich an, als würden sie einander zum ersten Mal sehen. Ruth fühlte sich plötzlich unwohl. Sie hatten noch nie über das Leben nach der Schule gesprochen, nicht wirklich. Sie sprang in Gedanken ein paar Jahre voraus und sah Barbara mit den für Heimatland typischen durchschnittlich 3,5 Kindern, die statt grellem Make-up dunkle Ringe unter den Augen trug. Lucy, die über den Campus schlenderte, jeden zweiten Abend Partys feierte und ihr Hauptfach alle paar Monate änderte, damit sie ewig weiterstudieren konnte. Patty im Overall, der der Schweiß von den Schläfen tropfte und die viel älter aussah als alle anderen, als hätte ihr Akku einfach früher an Leistung
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