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Das taube Herz

Titel: Das taube Herz
Autoren: Urs Richle
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In der Morgendämmerung eines strahlend blauen Septembertages fuhren drei Männer, ein großer Hagerer, ein kleiner Rundlicher und ein eleganter Blonder in einem unscheinbaren weißen Lieferwagen von Neuenburg her kommend durch den Tunnel Vue-des-Alpes. Es war gegen 8 Uhr 30, als der Wagen mit ortsfremdem Kennzeichen bei der Villa Madeleine, dem Uhrenmuseum Géraux-Sovary in La Chaux-de-Fonds, vorfuhr. Der Hagere und der Rundliche zogen sich blaue Arbeitskittel über. Der Blonde blieb am Steuer sitzen, rückte die große Sonnenbrille auf der Nase zurecht und beobachtete, wie seine Kumpels am Dienstboteneingang klingelten, bis die Putzfrau öffnete. Kurz darauf trugen die beiden Männer mehrere Säcke und Kisten durch das Hauptportal des Museums, legten alles in den Laderaum des Lieferwagens und fuhren gemächlich wieder davon, als handle es sich um einen gewöhnlichen, regulären Auftrag.
    Eine Dreiviertelstunde später traf Albert Géraux junior, Stiftungsverwalter des Museums Géraux-Sovary pünktlich wie jeden Tag um 9 Uhr 15 ein. Was er vorfand, war der größte Albtraum, den er in seinem dreiundfünfzigjährigen Junggesellenleben im Stillen bereits öfter durchlebt hatte. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, fuhr die Ahnung, dass es passiert war, wie ein Messer durch sein beklommenes
Herz. Jemand hatte die Verriegelung, die er am vergangenen Abend zum zigtausendsten Mal mit amtlicher Gewissenhaftigkeit vorgenommen hatte, bereits geöffnet. Die Tür sprang widerstandslos auf. Drinnen hörte er das Wimmern und die erstickten Hilferufe der Putzfrau. Und dort lag sie auch, geknebelt am Boden, ganz hinten vor der Besenkammer. Albert Géraux eilte von einem Ausstellungsraum in den nächsten. Alle Zimmer boten den gleichen traurigen Anblick. Sie glichen Schlachtfeldern, auf denen er alles verloren hatte, er, der letzte Nachfahre des Bankiers und Museumsstifters Albert Géraux des Älteren und alleiniger geistiger Erbe des größten, erfindungsreichsten und gleichzeitig verkanntesten Uhrmachers und Automatenbauers der Schweiz. An diesem Morgen war das gesamte kulturelle Erbe, das Vermächtnis des großen Erfinders und Konstrukteurs Jean-Louis Sovary verschwunden, in die Dunkelheit, aus der sein Vater es geholt hatte, zurückgestoßen. Dem Stiftungsverwalter war, als hätte ihm jemand den Lebenssaft aus dem Körper gesogen, als hätte jedes auf dieser Welt existierende Herz zu schlagen aufgehört. Er stand da, mitten in den Scherben der leeren Vitrinen, wo am vergangenen Tag noch die vierhundertsiebenundzwanzig Uhrwerke und Automaten ausgestellt gewesen waren, die sein Leben, seine Persönlichkeit, sein ganzes Sein und Haben ausmachten. Albert Géraux erstarrte, zerbrach wie das Glas, wurde zu Sand und zu Staub.
    Bis zum Eintreffen der auf Viertel vor zehn angemeldeten Schulklasse passierte in der Villa Madeleine an diesem Donnerstagmorgen gar nichts mehr. Albert Géraux sank im Raum Nummer 3 auf einen Stuhl nieder und hörte das wiederholte Klingeln an der Tür ebenso wenig wie
das unnachgiebige *Wimmern der Putzfrau. Es brauchte den entschlossenen Druck eines Primarschullehrers auf die Klinke, was den automatischen Türöffner in Gang setzte, die Tür aufschwenken und das Wimmern der geknebelten Frau nach draußen dringen ließ, so dass die Polizei alarmiert werden konnte.
     
    Drei Tage später, während der Stiftungsverwalter nach zwei durchwachten Nächten und endlos langen Tagen in seinem verdunkelten Wohnzimmer vor laufendem Fernseher über die Auflösung des seines Sinns und seiner Seele beraubten Uhrenmuseums nachdachte, traf auf dem Polizeiposten des benachbarten Städtchens Le Locle ein Anruf ein, der den Fund von drei großen, blauen Stoffsäcken und mehreren Kisten anzeigte. Ein Wanderer abseits der Wege war auf die in die Natur geworfenen Säcke aufmerksam geworden. Wo sonst nur Steine, Moos und morsches Holz lagen, war ihm der blaue Stoff sofort aufgefallen. Der Inhalt brachte zum Vorschein, was die Tage zuvor in den Zeitungen als vermisst gemeldet worden war: Über hundert Taschenuhren, drei Dutzend kleinere und mittlere Zimmer- und Standuhren sowie mehrere Musikautomaten in den unterschiedlichsten Gehäusen, verziert mit kleinen Skulpturen, in Ebenholz geschnitzten Blumen und Ranken lagen darin. Kleine bewegliche Figürchen waren da und dort angebracht, große und kleine Zeiger, in Email gebrannte Zifferblätter. Einige Schutzgläser waren zerschlagen, Verzierungen abgebrochen, Stücke zerstörter
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