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Ausgezählt

Ausgezählt

Titel: Ausgezählt
Autoren: Horst Eckert
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PROLOG
    Ob er unter Räuber gefallen sei, fragte die Frau und spielte auf seine Blessuren an. Er schaffte es, darüber zu lächeln, und wusste, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, sich ans Ende der Welt zurückzuziehen.
    Sie setzten sich an die lange Tafel des Bayon Restaurant und studierten die zweisprachige Karte. Er spürte fast keine Schmerzen mehr. Er war hungrig. Der Abstand zu seinem bisherigen Leben betrug vier Tage und knapp zehntausend Kilometer.
    Sie hörten den Geschichten der Einheimischen zu. Seine Begleiterin mokierte sich über deren schlechtes Englisch. Ihm gefiel es, wenn die Leute etwas erzählten. Es half ihm auszublenden, was zu Hause geschehen war.
     
    Am Tag hatte er sich ein Fahrrad geliehen, um in die Tempelzone zu gelangen. Er genoss es, durch den Wald zu streifen und Ruinen zu besteigen. Er fand den Ort, den er vor zwölf Jahren schon einmal betreten hatte, damals mit dem Hubschrauber einschwebend. Ta Prohm Kel: Nun eine Großbaustelle – mitten zwischen den Tempeln zog ein koreanischer Konzern einen Hotelkomplex hoch. Planierraupen qualmten, Betonmischer rumpelten. Ein Schild kündigte Fünf-Sterne-Luxus an.
    Die Verkäufer an den Souvenirständen fragten: »Col’ drink, Mista?«
    Die Kinder bettelten: »Wandalla, Wandalla!«
    Er begriff, dass sie einen Dollar verlangten, und verteilte Banknoten, bis er einsah, dass es zu viele Kinder waren.
    Als er in die Stadt zurückkehrte, erkannte er, dass er schon wieder auf der Suche war – er studierte die Gesichter der Einheimischen und schätzte ihr Alter ein.
    Vielleicht lebte Sok San hier, angelockt vom Geld der Touristen. Sok San: Guerilla-Offizier, Schmuggler und Mörder. Er fragte sich, wie er reagieren würde, wenn er dem Kerl begegnen würde, dem einzigen Menschen in diesem Land, dessen Namen er buchstabieren konnte.
    Vom Hotel aus rief er seine Mutter an. Er stellte sich vor, dass sein Name in den Zeitungen stand und Mutter sich fragte, wie es ihm ging. Bei ihr zu Hause war es jetzt später Vormittag.
    »Was willst du in diesem Land?«, wollte sie wissen.
    Er antwortete: »Mach dir keine Sorgen. Es ist schön hier. Es ist nicht mehr gefährlich.«
    Mutter hoffte, dass er bald zurückkehrte. Doch er hatte Angst davor.
    In seinem bisherigen Leben hatte er Menschen zerstört und beinahe sich selbst.
     
    Nach dem Abendessen schlenderte er mit seiner Begleiterin durch die Stadt. Es boten sich nicht viele Alternativen: Tiger Beer in der Ivy Lounge, Tomb Raider Cocktails in der Red Piano Bar. Ab und zu eine Vorführung traditioneller Tänze im Saal gegenüber, das Diner im Preis inbegriffen.
    Vor einem Plakat blieb seine Begleiterin stehen: ein Thai-Boxkampf.
    Die Erinnerung wurde gegenwärtig: Auch sein Name hatte auf einem Plakat gestanden. Er war bereits als Sieger gefeiert worden.
    Er dachte an Leute, die er hinter sich gelassen hatte. Freunde und Kollegen, die Verräter waren. Frauen, die ihn getäuscht hatten, und Frauen, denen er wehgetan hatte.
    Sein altes Leben. Vor vier Tagen war es explodiert – buchstäblich.
    Die Begleiterin wollte tatsächlich den Boxkampf sehen. Er willigte ein, weil er hoffte, dass ihn etwas davon an gute Zeiten erinnern würde. Glanzpunkte unter dem Schutt der Vergangenheit – zu ihnen würde er nicht mehr zurückkehren können.

 

Teil eins
    Partner
     

1.
    Gerd Janssen konnte nicht verstehen, warum sein bester Kämpfer auf diese Art seine Laufbahn beenden wollte. In achtzehn Jahren hatte er den Jungen nicht so erlebt. Bruno tänzelte, wie Janssen es ihm geraten hatte. Aber er jagte den Gegner nicht. Er wich nur aus.
    Der Duisburger, ein bulliger Türke namens Ekinci, marschierte auf Bruno zu, der ihn mit einer linken Geraden empfing, nichts folgen ließ und zurückwich. Ekinci duckte sich, ging nach vorn und landete einen Haken gegen Brunos Rippen, einen zweiten ließ Janssens Schützling durch eine rasche Drehung ins Leere gehen.
    Der Junge tanzte durch den Ring – eine fast perfekte Vorstellung. Auf den Zehen, im Uhrzeigersinn um den Türken kreisend. Mit ein paar linken Geraden spielte er seine Reichweite aus, ohne wirklich anzugreifen. Ekinci versuchte unter den Schlägen wegzutauchen, in die Nahdistanz zu gehen, seine Schlagkraft auszuspielen. Doch Bruno war immer woanders. Warum, zum Teufel, konterte er nicht?
    Janssen spürte, dass auch das Publikum unruhig wurde.
    Vor dem Gong deutete der Junge kurz an, was in ihm steckte. Links-links-rechts, zwei Schläge krachten in das Gesicht des
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