Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Spaetestens morgen

Spaetestens morgen

Titel: Spaetestens morgen
Autoren: Zoe Jenny
Vom Netzwerk:
Sugar Rush
    Sie warteten auf ihn in ihre Regenjacken gehüllt, die Kapuzen hochgezogen. Er freute sich darauf, den Tag mit den Kindern allein zu verbringen. Auf dem Weg zur Untergrundbahn ging er, eine Zigarette rauchend, einen Schritt hinter ihnen. Selwyn erzählte Tara aufgeregt etwas über ein neues Computerspiel. Tara nickte nachgiebig und legte plötzlich wie beschützend die Hand auf den Kopf ihres Bruders – eine Geste, die Mike seltsam berührte. Sie war zwei Jahre älter als Selwyn und immer ganz die große Schwester. In der Untergrundbahn standen sie so dicht beisammen, dass er seinen Arm um sie legen konnte, während ihre Körper sich gleichzeitig im Rhythmus des Wagens wiegten. Draußen schubste er sie durch das übliche Gedränge von Oxford Circus in die Regent Street. Er behielt sie dabei vorsichtig im Auge, als ob er fürchtete, sie könnten in der Menschenmasse verschwinden und für immer verlorengehen. Ein Gedanke, der ihn mit Panik erfüllte.
    Selbst an einem düsteren Tag wie heute wirkte der große Apple Store hell, die unzähligen Bildschirme leuchteten wie kleine Sonnen. Tara und Selwyn rannten auf einen Computer zu und drückten sofort wild auf den Tasten herum. Karin würde überrascht sein, wenn die Kinder ihr am Abend den Computer zeigten. Er hatte ihr nichts über den Vorschuss gesagt, den er für sein neues Theaterstück bekommen hatte. Es war nicht nur ein Geschenk für die Kinder, es war ein Statement, ein Zeichen dafür, dass auch er etwas beisteuern konnte – und kein Parasit war. Schlimm genug, dass Karin das Geld verdiente und alles für ihn bezahlte. Zu Beginn war es zwar ganz angenehm gewesen, sich in ein gemachtes Nest zu setzen, aber Mike fühlte sich zunehmend eingeengt, und die Abhängigkeit störte ihn.
    Das junge Personal in Turnschuhen und umgelegten Headphones schwirrte mit einer Leichtigkeit durch das Geschäft, als gehörten sie allesamt einer anderen Spezies an. Eine junge Frau erklärte ihm ausführlich die Funktionen des Computers – die er sogleich alle wieder vergaß, weil er fasziniert das Piercing in ihrer Zunge studierte, das jedes Mal aufblitzte, sobald sie den Mund öffnete – er fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, sie zu küssen, bei dem Gedanken, mit der Zunge das Metall zu berühren, schauderte ihn. Die Verkäuferin lächelte die Kinder an, fragte nach ihren Namen und ihrem Alter. Die beiden zogen stets alle Aufmerksamkeit auf sich; wenn er mit ihnen unterwegs war, übersahen ihn deshalb die Frauen, gerade so, als ob er gar nicht existierte. Auch als er zahlte und den Computer entgegennahm, bedankte sich die Verkäuferin nicht etwa bei ihm, sondern bei den Kindern, winkte ihnen nach und wünschte ihnen viel Spaß mit dem weißen Gerät. Ein letztes Mal sah er das Metall in ihrem Mund aufblitzen.
    Draußen regnete es in Strömen. Tara nahm Selwyn an die Hand. »Wie wäre es mit einem Eis?«, fragte Mike. Es war so leicht, die Kinder zufriedenzustellen. Die Eisdiele am Leicester Square war nur einen Katzensprung entfernt. Und ein kleiner Sugar Rush würde ihnen gewiss nicht schaden. Karin musste es ja nicht wissen. Ein Geheimnis zwischen ihm und den Kindern. Das letzte Mal hatten sie in Karins Abwesenheit eine riesige Packung Chips vernascht, während sie im Fernsehen Tom & Jerry geschaut hatten. Das krachende Geräusch der knusprigen Chips, während ihre Hände abwechselnd in der Tüte versanken, gab ihm ein Gefühl der Verbundenheit. Karins Besessenheit, den Kindern nur biologisch einwandfreies Essen zu erlauben und jegliches Junkfood zu verbieten, fand er völlig übertrieben. War für sie doch alles irgendwie vergiftet, die Luft, das Wasser, die Nahrung. Für Karin war die Welt eine einzige Giftmülldeponie. Schon mehr als einmal hatte er ihr zu erklären versucht, dass es vielleicht gar nicht so gesund sei, die Welt nur als eine toxische Gefahrenzone wahrzunehmen. Zwecklos. Karin hatte eine Mission, und wenn er auch nur den leisesten Zweifel äußerte, bombardierte sie ihn mit Statistiken, zählte alles auf: die Konservierungsmittel, E-Nummern, Karzinogene, die Krankheiten und Krebsraten, die globale Erderwärmung – denn alles war miteinander verbunden, und sie hatte ja recht, das musste er am Ende immer eingestehen. Nur: Manchmal wollte er das alles gar nicht wissen. Wie neulich am Sonntagmorgen, als sie ihm im Bett erklärte, dass selbst die Kleider nun vergiftet seien. Er blickte aus dem Fenster in den Garten, während Karin ausführte, wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher