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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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ich sechs war, hat er eine Russin geheiratet, obwohl der Tod meiner Mutter noch nicht einmal ein Jahr her war. Verwandte meiner Mutter leben in Kolyma. Ich sollte dorthin, um ihnen zu helfen. Darum wollte ich den Kahn in Jakutsk verlassen. Aber jetzt bin ich hier. Du sitzt also nicht als Einzige im Gefängnis.«
    Er trank noch einen tiefen Schluck. »Willst du Holz stehlen, Vilkas?« Er breitete die Arme aus. »Dann los.« Er winkte in Richtung Stapel. »Dawai.«
    Meine Ohren und Augenlider brannten vor Kälte. Ich ging zum Holzstapel.
    »Die neue Frau meines Vaters hasst mich auch. Sie hasst alle Polen.«
    Ich griff nach einem Scheit. Er hinderte mich nicht daran. Als ich das Holz zu stapeln begann, hörte ich etwas. Kretzky hatte mir den Rücken zugekehrt, die Flasche hing lose in seiner Hand. War ihm schlecht? Ich wich einen Schritt zurück, die Scheite in den Armen. Dann hörte ich es wieder. Kretzky war nicht schlecht. Er weinte.
    Hau ab, Lina. Schnell! Nimm das Holz und dann nichts wie weg! Doch ich verschwand nicht, sondern ging unwillkürlich auf ihn zu. Was tat ich da? Ich trug ja noch das gestohlene Holz. Kretzky versuchte sein Weinen zu unterdrücken. Es schien ihm unangenehm zu sein.
    »Nikolai.«
    Er sah mich nicht an.
    Ich stand stumm da. Dann zog ich eine Hand unter dem Holz hervor und legte sie auf seine Schulter. »Es tut mir leid, Nikolai«, sagte ich.
    Wir standen schweigend im Dunkeln.
    Schließlich ging ich.
    »Vilkas.«
    Ich drehte mich noch einmal um.
    »Es tut mir leid um deine Mutter«, sagte er.
    Ich nickte. »Mir auch.«

83
    Ich hatte immer wieder Pläne geschmiedet, wie ich mich am NKWD rächen und es den Sowjets zeigen konnte, wenn sich die Möglichkeit dazu bot. Und ich hatte eine Möglichkeit gehabt. Ich hätte Kretzky auslachen, ihn mit Holz bewerfen, ihm ins Gesicht spucken können. Er hatte mich beworfen und gedemütigt. Immerhin hasste ich ihn. Ich hätte mich einfach abwenden und gehen sollen. Ich hätte mich gut fühlen sollen. Aber so war es nicht. Sein Weinen tat mir körperlich weh. Was war los mit mir?
    Ich erzählte niemandem von dem Vorfall. Am nächsten Tag war Kretzky weg.
    Der Februar brach an. Janina rang mit Skorbut. Herr Lukas litt an der Ruhr. Frau Rimas und ich pflegten die beiden, so gut es ging. Janina plapperte endlos lange mit ihrer Puppe, und manchmal schrie oder lachte sie. Nach einigen Tagen verstummte sie.
    »Was sollen wir tun?«, fragte ich Jonas. »Janina wird mit jeder Minute kränker.«
    Er sah mich an.
    »Was ist?«, fragte ich.
    »Ich habe wieder den Ausschlag«, antwortete er.
    »Wo? Lass mich sehen.«
    Sein Bauch war mit den Flecken gesprenkelt, die Skorbut ankündigten. Das Haar fiel ihm büschelweise aus.
    »Dieses Mal gibt es keine Tomaten«, sagte Jonas. »Andrius ist nicht da.« Er schüttelte den Kopf.
    Ich packte meinen Bruder bei den Schultern. »Hör mir gut zu, Jonas. Wir werden überleben. Wir werden heimkehren. Wir werden nicht sterben. Hörst du? Wir werden in unser Haus zurückkehren, und wir werden unter den Daunendecken in unseren Betten schlafen. So wird es sein. Glaub mir!«
    »Wie sollen wir es ohne unsere Eltern schaffen?«, fragte er.
    »Wir haben noch unseren Onkel und unsere Tante. Und Joana. Sie werden uns helfen. Wir werden die Apfelkuchen und das Schmalzgebäck unserer Tante essen, das du so lecker findest. Und Andrius wird uns auch helfen.«
    Jonas nickte.
    »Sag es. Sag: ›Wir kehren heim.‹«
    »Wir kehren heim«, wiederholte Jonas.
    Ich umarmte ihn und küsste die kahle, schrundige Stelle auf seinem Kopf. »Hier.« Ich holte Andrius’ Stein aus der Tasche und reichte ihn Jonas. Er war so benommen, dass er ihn nicht nahm.
    Mir sank der Mut. Was sollte ich tun? Ich hatte keine Medikamente. Alle waren krank. Wäre ich bald mit dem Glatzkopf allein?
    Wir holten abwechselnd die Brotrationen. Ich bettelte in anderen Jurten wie Mutter in der Kolchose. In einer Jurte saßen zwei Frauen zwischen vier Leuten, die wie zum Schlafen zugedeckt waren. Aber sie waren alle tot.
    »Bitte nichts verraten«, flehten sie. »Wir wollen sie begraben, nachdem der Sturm abgeflaut ist. Wenn der NKWD merkt, dass sie tot sind, werden sie in den Schnee geworfen.«
    »Ich behalte es für mich«, versicherte ich.
    Der Sturm wütete. Das Heulen des Windes hallte in meinen brennenden Ohren. Er war so kalt wie weißes Feuer. Ich kämpfte mich zu unserer Jurte durch. Vor den Hütten lagen schneebedeckte Leichen, gestapelt wie Feuerholz. Herr Lukas war
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