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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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Geschichten aus der Heimat. Ich beschrieb die Zimmer unseres Hauses in allen Details, sogar das Muster der Löffel in der Küchenschublade.
    »Der Kuchen backt im Ofen, und in der Küche ist es so heiß, dass du das Fenster über dem Spülbecken öffnest, um den warmen Wind hereinzulassen. Du kannst spielende Kinder hören«, erzählte ich ihr.
    Am späteren Vormittag fiel Mutter das Atmen immer schwerer.
    »Du musst noch mehr Backsteine erhitzen, Lina«, sagte mein Bruder. »Ihr ist zu kalt.«
    Plötzlich sah Mutter zu Jonas auf. Sie öffnete den Mund. Kein Laut drang heraus. Sie hörte auf zu zittern. Ihre Schultern erschlafften, ihr Kopf fiel gegen Jonas. Ein hohler Blick trat in ihre Augen.
    »Mutter?«, fragte ich und beugte mich über sie.
    Frau Rimas tastete nach Mutters Halsschlagader.
    Jonas begann zu weinen. Er hielt sie in seinen elfjährigen Armen. Sein leises Wimmern verwandelte sich in heftige, herzzerreißende Schluchzer, die seinen ganzen Körper schüttelten.
    Ich legte mich hinter ihn und nahm ihn in den Arm.
    Frau Rimas kniete sich neben uns. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln« , begann sie.
    »Mutter«, schrie Jonas.
    Tränen strömten über meine Wangen.
    »Sie hatte eine wunderbare Seele«, sagte Herr Lukas.
    Janina streichelte mein Haar.
    »Ich liebe dich, Mutter«, flüsterte ich. »Ich liebe dich, Papa.«
    Frau Rimas fuhr fort.
    »Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
    fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir,
    dein Stecken und Stab trösten mich.
    Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.
    Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.
    Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,
    und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.
    Amen.«
    Besser konnte man Mutter nicht beschreiben. Sie hatte allem und jedem Liebe entgegengebracht, sogar ihren Feinden.
    Frau Rimas begann zu weinen. »Süße Elena. Sie war so gut. So gut zu allen.«
    »Sie dürfen ihren Leichnam nicht bekommen«, sagte Jonas zu Frau Rimas. »Ich möchte sie begraben. Bitte. Sie darf nicht von Füchsen gefressen werden.«
    »Wir begraben sie«, versichterte ich Jonas unter Tränen. »Wir zimmern einen Sarg. Wir benutzen die Bretter, auf denen wir schlafen.«
    Jonas nickte.
    Der Glatzkopf starrte vor sich hin und sagte ausnahmsweise einmal kein Wort.
»Sie ist hübsch«, sagte Jonas, der neben Omas Sarg stand. »Weiß sie, dass ich hier bin, Papa?«
»Oh, ja«, antwortete Papa und nahm ihn in die Arme. »Sie sieht von oben zu.«
Jonas schaute erst zur Decke, dann zu Papa.
»Erinnerst du dich an den Drachen, den wir im letzten Sommer steigen ließen?«, fragte Papa.
Jonas nickte.
»Als der Wind auffrischte, habe ich gerufen, dass du locker lassen sollst. Dann hat sich die Leine abgerollt, und die hölzerne Spule hat sich in deinen Händen gedreht, weißt du noch? Der Drachen ist immer höher gestiegen. Ich hatte vergessen, die Schnur an der Spule zu befestigen. Und was ist passiert?«
»Der Drachen ist am Himmel verschwunden«, sagte Jonas.
»Richtig. Das Gleiche geschieht, wenn Menschen sterben. Ihre Seele fliegt zum blauen Himmel auf«, sagte Papa.
»Vielleicht hat Oma den Drachen gefunden«, meinte Jonas.
»Vielleicht«, sagte Papa.
    Der Glatzkopf saß da, die Ellbogen auf den Knien, und redete mit sich selbst. »Warum ist das Sterben so schwer?«, fragte er. »Ich bin mitschuldig an eurer Deportation. Ich habe mich zu spät geweigert. Ich habe die Listen gesehen.«
    Frau Rimas fuhr herum. »Was?«
    Er nickte. »Sie haben mich aufgefordert, die Berufe der Leute festzustellen. Ich musste alle in der Nähe wohnenden Lehrer, Anwälte und Militärangehörigen auflisten.«
    »Und Sie haben es getan?«, fragte ich.
    Jonas hielt Mutter in seinen Armen. Er weinte immer noch.
    »Ich habe eingewilligt«, antwortete der Glatzkopf. »Und dann habe ich mich eines Besseren besonnen.«
    »Verräter! Armseliger Greis!«, rief ich.
    »Ja, armselig. Aber ich lebe noch. Mein Überleben ist bestimmt meine Strafe. So muss es sein. Diese Frau schließt ihre Augen, und weg ist sie. Ich habe mir vom ersten Tag an den Tod gewünscht. Trotzdem lebe ich noch. Ist das Sterben wirklich so schwer?«

81
    Ich erwachte unruhig. Die Nacht hatte es nicht gut mit mir gemeint. Ich schlief neben Mutters Leichnam und dämpfte mein Schluchzen, damit Jonas nichts hörte. Meine schöne Mutter – ich würde sie nie mehr lächeln sehen, nie mehr spüren, wie sie mich in die Arme nahm. Ich
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