Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Piratenlord

Titel: Der Piratenlord
Autoren: Deborah Martin
Vom Netzwerk:
1. KAPITEL
    London, Januar 1818
    In Miss Sara Willis' dreiundzwanzigjährigem Leben hatte es schon viele peinliche Momente gegeben. Doch sie alle waren geringfügig gewesen verglichen mit dem, was ihr jetzt widerfuhr. Als sie das Newgate Gefängnis in Begleitung des Damenkomitees verließ, trieb ihr Stiefbruder Jordan Willis - der neue Earl of Blackmore, Viscount Thornworth und Baron Ashley - sie mit schamlosem Mangel an Anstand zu der wartenden Blackmore-Kutsche, als sei sie noch ein Kind.
    Sie hörte ihre Freundinnen unterdrückt lachen, als Jordan die Tür aufriss und sie finster anblickte.
    „Steig sofort ein, Sara.“
    „Jordan, es ist doch wirklich nicht nö . . .“
    „Jetzt!“
    Entsetzt und verlegen stieg sie so würdevoll wie möglich in das bequeme Gefährt. Er folgte ihr, schlug die Tür zu und ließ sich so heftig auf den Sitz ihr gegenüber fallen, dass die Kutsche zu schaukeln begann.
    Als er das Zeichen zur Abfahrt gab, blickte sie entschuldigend zu ihren Freundinnen hinaus. Sie hatte sich mit ihnen bei Mrs. Fry zum Tee treffen sollen, was ja nun nicht mehr möglich war.
    „Hör schon auf damit, und sieh mich an, zum Teufel!“
    Sie lehnte sich gegen das Damastkissen und blickte ihn an. Schon wollte sie ihn wegen seines unangemessenen Verhaltens tadeln, doch als sie seine gerunzelte Stirn bemerkte, besann sie sich anders. Obwohl sie an Jordans heftiges Temperament gewöhnt war, mochte sie nicht die Zielscheibe dafür sein. „Sara“, sagte er ungehalten, „wie sehe ich heute aus?“
    Sie faltete die Hände im Schoß und betrachtete ihn. Sein Halstuch war unordentlich gebunden, das kastanienbraune Haar ungebändigt und Gehrock und Hose waren zerknittert. „Du hast eine Rasur nötig und deine Kleidung ist. .
    „Und kannst du dir auch denken, warum ich in diesem Aufzug hierher gekommen bin?“ Wütend hatte er die Brauen zusammengezogen.
    „Weil du mich gern sehen wolltest?“ fragte sie aufs Geratewohl.
    „Lass den Unsinn“, warnte er sie. „Du weißt ganz genau, warum ich hier bin. All dein Charme kann mich nicht von deinem neuesten verrückten Plan ablenken.“
    Du lieber Himmel. Er konnte doch nicht alles wissen, oder? „Welchen verrückten Plan meinst du denn? Das Damenkomitee und ich haben doch nur Körbe mit Speisen an die Unglücklichen in Newgate verteilt.“
    „Du hast noch nie gut geschwindelt, Sara. Ich muss dir ja wohl nicht sagen, warum du in Newgate warst.“ Herausfordernd verschränkte er die Arme vor der Brust. Bluffte er vielleicht nur? Das konnte man bei Jordan nie genau sagen.
    Sie äffte ihn nach, verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust und fragte: „Und weshalb war ich deiner Meinung nach in Newgate, Herr Alleswisser?“
    Niemand machte sich ungestraft über Jordan lustig. Bei ihr ertrug er das nur deshalb, weil er sie wirklich als seine Schwester ansah, obwohl es keine Blutsbande zwischen ihnen gab. Doch das Glitzern in seinen Augen zeigte ihr, dass sie sein Wohlwollen überbeansprucht hatte.
    „Du hast in Newgate die Frauen aufgesucht, die mit einem Sträflingsschiff nach New South Wales gebracht werden sollen, weil du offenbar auf die närrische Idee gekommen bist, sie zu begleiten.“ Als sie protestieren wollte, fügte er hinzu: „Hargraves hat mir alles mitgeteilt.“
    Der Butler war ihr gegenüber doch sonst immer loyal gewesen. Warum hatte der Schuft denn nun ihr Vertrauen missbraucht?
    Entwaffnet sank sie auf ihrem Sitz zusammen. Sie fuhren jetzt durch die Fleet Street. Normalerweise amüsierte sie das geschäftige Treiben dort, doch jetzt konnte nichts sie aufheitern.
    Jordan sprach abgehackt weiter: „Als ich Hargraves' Brief erhielt, habe ich in Blackmore Hall alles stehen und liegen lassen, um nach London zu eilen und dich zur Vernunft zu bringen.“
    „Nie wieder werde ich Hargraves etwas anvertrauen“, murrte sie.
    „Also bitte, Sara. Du kannst vielleicht die Augen vor den Gefahren verschließen, die dir von dieser Quäkerin Mrs. Fry und ihrem Damenkomitee drohen. Doch die Bediensteten und ich können das nicht.“ Der sorgenvolle Unterton in seiner Stimme wurde stärker. „Auch Hargraves, der deine Reformbemühungen durchaus gutheißt, ist kein Narr. Er hat klar erkannt, wie gefährlich dein neues Vorhaben ist, und er hat nur seine Pflicht getan, als er mich informierte. Wenn er das unterlassen hätte, hätte ich ihn hinausgeworfen.“
    Sie blickte ihren gut aussehenden Stiefbruder unverwandt an, der ihr mit seinen kastanienbraunen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher