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Loewenmutter

Loewenmutter

Titel: Loewenmutter
Autoren: Esma Abdelhamid
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Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Hier habe ich nichts mehr zu suchen. Es regnet. Wie ein Schleier legt sich der feine Nieselregen auf die Blätter der alten Kastanien. Es muss gegen Mitternacht sein. Ich laufe einen schmalen Fußweg entlang, meine Plastiktüte in der Hand. Zwischen zwei Häuserblocks hindurch, die sich links und rechts wie Gebirgszüge auftürmen. Ich gehe schnell, meine Schritte hallen mir im Ohr. Ich gehe ohne Ziel, als ob jemand hinter mir her wäre, einmal um den Block. Ich laufe meiner Wut und den Tränen davon. Es dauert keine fünf Minuten, bis ich an der Bushaltestelle nicht weit von unserem Haus ankomme.
    Auf einmal bin ich unsagbar müde und sacke in mich zusammen. Alle Wut ist verflogen, da ist nur noch Leere, ein abgebranntes Feuer. Ich habe Angst, sehe nach rechts und sehe nach links, setze mich und warte. Auf was? Ich bin allein. Kein Mensch weit und breit auf der Straße. Alles still. Jedes einzelne Blatt, das zu Boden fällt, höre ich. Ich stelle die Tüte auf die Bank.
    Mein Gesicht spiegelt sich im Plexiglas des Unterstands. Wer bin ich? Vor elf Jahren aus Tunesien nach Hamburg gekommen, nichts außer den eigenen vier Wänden gesehen, dem Mann gehorcht, drei Kinder geboren, kaum ein paar Worte Deutsch gelernt. Ausgesetzt an einer Bushaltestelle: 31 Jahre alt, frei und fremd in einer Stadt, die ich nicht kenne.
    Weiß der Himmel, warum ich vom Flughafen aus ausgerechnet zu meinem Exmann gefahren bin. Vielleicht weil ich ihm gegenüberstehen und ihm ins Gesicht schreien wollte: »Ich werde es ohne dich schaffen und um die Kinder kämpfen!« Er hatte sie mir genommen und mich vor die Tür gesetzt. Ohne Sprache, ohne Geld und ohne Kleider.
    Jetzt bin ich frei. So frei wie nie zuvor. Ich zittere, aber da ist keiner, der mich in eine Decke wickelt und einer Mutter auf den Bauch legt. Ich bin ein Notfall, aber keiner weiß von mir. Kein Mensch wird mich vermissen oder nach mir suchen. Ich muss für mich alleine sorgen. Das Geräusch eines Autos, das durch Wasserpfützen fährt, schreckt mich auf. Ich betrachte den nassen Asphalt, der unter dem Schein der Straßenlaterne wie ein goldener Teppich glitzert: Ein langes, dreckiges Stück Weg, das vor mir liegt.

1.
    »Vater hat dir einen Mann ausgesucht«
    Ich war nicht zu Hause, als er zum ersten Mal kam. Ich kannte meinen zukünftigen Bräutigam nicht, auch mein Vater nicht, keiner aus meiner Familie kannte ihn. Seine Familie stammte aus einem Dorf 150 Kilometer südlich von unserer Stadt mitten in Tunesien. Abdullah war ins Ausland gegangen, um Geld zu verdienen. Jetzt kam er mit seinem älteren Bruder.
    Es muss ein paar Tage zuvor gewesen sein, im Herbst 1979, als ich meine Schwester Fatma bei ihrer Arbeit auf dem Sozialamt – sie kümmerte sich um Wohngeld und Sozialhilfe – besuchte. Heimlich wieder einmal. Ich freute mich, so wie ich mich immer freute, wenn ich rauskam von zu Hause, wo ich mich seit sieben Jahren um meine jüngeren Geschwister kümmerte. Kochen, Waschen, Putzen, und das mit knapp 19 Jahren, wo junge Mädchen eigentlich andere Träume haben. Doch ich hatte keine Wahl, jemand musste die Arbeit machen, unsere Mutter saß meist apathisch auf ihrem Stuhl neben dem Küchenherd, oder sie lag im Bett.
    Hätte mein Vater davon gewusst, dass ich ohne Erlaubnis losgezogen war, um die Schwester abzuholen, hätte er getobt. Nicht einmal über den Garten zu den Nachbarn ließ er seine unverheirateten Töchter. Wenn er uns vor der Mauer unseres Hauses erwischte, setzte es Schläge. Ich nutzte trotzdem jede Gelegenheit, um zu entwischen.
    Obwohl schon Oktober, staut sich die Hitze um die Mittagszeit in Fatmas Büro, die Klimaanlage gibt einen monotonen Summton von sich. »Warte, ich hab’s gleich«, sagt meine Schwester, »muss nur noch ein paar Akten einräumen, dann können wir gehen.«
    Ich stelle mich ans Bürofenster, schiebe die Lamellen der Jalousie aus grauem Blech zusammen und schaue durch den Spalt nach draußen. Ein Eselskarren mit hochaufgetürmten Teppichen rattert vorüber. Das dumpf klappernde Geräusch der eisenbereiften Holzräder auf dem Asphalt hallt von den Häuserfronten wider. Aus dem Café im Erdgeschoss des Gebäudes ziehen Duftschwaden aus Kardamom und Ingwer nach oben, vermischt mit nach Benzin stinkenden Auspuffabgasen.
    Plötzlich, ohne anzuklopfen, steht Mahmoud, der direkte Vorgesetzte meiner Schwester, im Büro. Er hat ein paar Anträge in der Hand, die er Fatma auf den Schreibtisch legt.
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