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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Autoren: Ruta Sepetys
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Beachtung, Mädchen?«
    »Oh, ich schenke Ihnen Beachtung. Aber Sie sollten endlich begreifen, dass wir genug von Ihnen haben!«, rief ich.
    Ich war todmüde. Geistig, körperlich und emotional erschöpft. »Sie reden ständig von Tod und Selbstmord. Haben Sie immer noch nicht kapiert, dass wir nicht sterben wollen?«
    »Aber ich will sterben!«, beharrte er.
    »Vielleicht wollen Sie gar nicht wirklich sterben«, sagte Jonas. »Vielleicht glauben Sie nur, den Tod verdient zu haben.«
    Der Glatzkopf starrte Jonas und mich an.
    »Sie denken immer nur an sich selbst. Was hält sie davon ab, sich umzubringen?«, fragte ich. Wir starrten einander eine Weile stumm an.
    »Angst«, sagte er schließlich.
    Zwei Tage nachdem wir Mutter begraben hatten, lag wieder ein Heulen in der Luft, das für den nächsten Tag einen Sturm ankündigte. Ich hüllte mich in alle Lumpen, die ich finden konnte, und ging hinaus in die Dunkelheit, um Holz zu stehlen. Wenn wir tagsüber Holz hackten und den NKWD-Leuten brachten, verbargen wir immer etwas hinter dem großen Stapel. Alle wussten, wo es war, und Mutige konnten es holen. Ein Mann aus Gruppe 26 wurde beim Holzdiebstahl erwischt und zu weiteren fünf Jahren verurteilt. Fünf Jahre für einen Scheit. Es hätten auch fünfzig sein können. Man bestrafte uns, weil wir versuchten, am Leben zu bleiben.
    Ich schlug einen großen Bogen, um zur Rückseite der NKWD-Unterkünfte zu gelangen. Ganz in der Nähe lag das Holz. Ich hatte mein Gesicht bis auf die Augen verhüllt und trug Mutters Mütze. Eine Gestalt, die ein langes Brett schleppte, eilte an mir vorbei. Mutig! Die Bretter lehnten an einem der Gebäude. Kurz vor dem Holzstapel blieb ich abrupt stehen, denn dahinter stand eine in einen Mantel gehüllte Gestalt. Es war so dunkel, dass ich nicht erkennen konnte, wer es war. Ich drehte mich langsam um und wollte davonschleichen.
    »Wer da? Zeig dich!«
    Ich drehte mich um.
    »Gruppennummer?«, fragte der Mann.
    »Elf«, antwortete ich und wich zurück.
    Die Gestalt kam näher. »Vilkas?«
    Ich antwortete nicht. Als der Mann dicht vor mir stand, sah ich die Augen unter der dicken Pelzmütze: Kretzky. Er kam ins Stolpern, und ich hörte ein Gluckern. Er hatte eine Flasche dabei.
    »Willst du stehlen?«, fragte er und trank einen Schluck.
    Ich schwieg.
    »Hier kann ich dir keinen Auftrag besorgen. Hier will niemand ein Porträt«, sagte er.
    »Glauben Sie wirklich, dass ich für Sie zeichnen möchte?«
    »Warum nicht?«, erwiderte er. »Immerhin hattest du es warm. Du hast etwas zu essen bekommen. Und du hast ein schönes, realistisches Porträt gezeichnet.« Er lachte.
    »Realistisch? Ich will nicht gezwungen werden, so zu zeichnen.« Warum sprach ich überhaupt mit ihm? Ich wollte gehen.
    »Deine Mutter«, sagte Kretzky.
    Ich blieb stehen.
    »Sie war eine gute Frau. Man konnte ihr ansehen, dass sie früher sehr hübsch war.«
    Ich fuhr herum. »Wie bitte? Sie war immer hübsch! Wenn jemand hässlich ist, dann Sie. Sie konnten ihre Schönheit nicht erkennen. Ja, Sie erkennen sie in niemandem!«
    »Doch, ich habe es gesehen. Sie war hübsch. Krasiwaja .«
    Nein. Nicht dieses Wort. Ich hatte es nicht von Kretzky erfahren, sondern selbst lernen sollen.
    »Es bedeutet schön, aber auch kraftvoll«, lallte er. »Einzigartig.«
    Da ich ihn nicht anschauen mochte, sah ich zum Holz. Ich hätte ihm am liebsten einen Scheit ins Gesicht geworfen, wie man mir die Sardinendose an den Kopf geworfen hatte.
    »Du hasst mich also?« Er lachte wieder.
    Wie hatte Mutter diesen Kretzky ertragen können? Sie hatte behauptet, er habe ihr geholfen.
    »Ich hasse mich auch«, murmelte er.
    Ich sah auf.
    »Willst du mich so zeichnen? Wie dein geliebter Munch?«, fragte er. Sein Gesicht wirkte aufgequollen, und ich konnte sein genuscheltes Russisch kaum verstehen. »Ich kenne deine Zeichnungen.« Er zeigte mit einem zitternden Finger auf mich. »Ich kenne sie alle.«
    Er hatte meine Zeichnungen gesehen. »Woher wussten Sie vom Tod meines Vaters?«, fragte ich.
    Er überhörte meine Frage.
    »Meine Mutter war auch Künstlerin«, sagte er und schwenkte die Flasche. »Aber sie ist bei deiner Mutter – tot.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich spontan. Warum hatte ich das gesagt? Es war mir doch egal.
    »Das tut dir leid?« Er zog ungläubig die Nase hoch, klemmte sich die Flasche unter einen Arm und rieb seine Handschuhe aneinander. »Meine Mutter war Polin. Als sie starb, war ich fünf Jahre alt. Mein Vater ist Russe. Als
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