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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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einen anderen Mann verliebt hätte. Oder wenn ich den Mut gehabt hätte, mein Leben mit ihm statt mit Bob zu teilen.
    Sie erstarrt zu Eis, als ihr die ungeheuerliche Tragweite ihrer Beichte aufgeht. Ihr Atem geht flach und schnell.
    Das ist kein Brief, sondern eine Bombe. Es ist zu viel, es kommt viel zu schnell. Obwohl sie nie vorgehabt hat, ihn tatsächlich zu verbrennen, kann sie nun an nichts anderes mehr denken. Sie kann ihn auf keinen Fall in ihre Handtasche stecken. Ihn in einen Abfallkorb zu werfen ist ebenfalls zu riskant. Sie könnte nachts nicht mehr schlafen, wenn sie wüsste, dass er irgendwo herumliegt und dass ihn womöglich jemand findet.
    Sie rennt zurück in den Laden und kauft ein Feuerzeug, fahrig und hektisch wie ein Nikotinjunkie. Selbst der ältere Inder an der Kasse lässt sich von ihrer Panik anstecken. Sicher hat er in seinem Leben schon so einiges gesehen – und doch gelingt es Carol, ihn an einem ruhigen Nachmittag in Croydon aus der Ruhe zu bringen.
    Wieder auf der Straße, steuert sie hastig den nächsten Abfallkorb an, ohne zu bemerken, dass im Eingang der Praxis eine Arzthelferin steht, die sie nicht aus den Augen lässt.
    Mit zitternden Händen reißt Carol die erste Seite und vorsichtshalber auch gleich noch die darunterliegenden vom Block und hält das brennende Feuerzeug darunter. Weil ein leichter Wind weht, entpuppt sich ihr Vorhaben als unerwartet schwierig.
    Schließlich fangen die Blätter doch noch Feuer, so schnell gehen sie in Flammen auf, dass Carol sie erschrocken loslässt. Sie sieht in den Abfallkorb, hofft verzweifelt, dass das Feuer von selbst wieder verlöschen wird, aber die Seiten sind auf alten Zeitungen und fettigen Hamburger-Kartons gelandet. Es brennt wie Zunder. In Sekundenschnelle schlagen Flammen aus dem Korb, und eine dicke Rauchwolke quillt empor.
    Carol macht sich unauffällig davon. Als sie sich forschend umblickt, ob sie auch niemand beobachtet hat, entdeckt sie die Arzthelferin.
    »Entschuldigung!«, ruft die Frau. »Aber sind Sie vielleicht Mrs. Cooper?«
    Soll sie weglaufen? Nein, lieber nicht. Es ist viel besser, sich ruhig und gefasst zu geben. Jemand wie sie würde doch niemals ein Inferno auslösen. Die Arzthelferin ist überarbeitet. Sie hatte eine Sinnestäuschung.
    Der Blick der Frau huscht zwischen Carol und der Qualmwolke, die sich inzwischen die Straße hinunterwälzt, hin und her.
    »Ist etwas passiert?«, fragt Carol, als sie vor ihr steht.
    »Es geht um Ihren Mann.« Die Arzthelferin senkt die Stimme. »Vielleicht unterhalten wir uns lieber drinnen.«

8
    Albert rammt die Gabel tiefer in den Toaster, aber an das Brot kommt er trotzdem nicht heran. Er denkt gar nicht erst daran, vorher den Stecker zu ziehen. Das Problem mit dem Älterwerden ist nicht, dass man vergesslich wird, sondern, dass man manches einfach nicht mehr so wichtig nimmt. Seine Marotten haben ihn in den letzten Jahrzehnten auch nicht umgebracht. Wozu sich also jetzt noch Sorgen machen?
    »So«, sagt er, als er die verkohlte Toastscheibe herausstochert. »Ein bisschen dunkelbraun, aber dafür schmeckt’s besser.«
    Während er den Toast ins Wohnzimmer bringt, ist er in Gedanken schon bei dem Gespräch, das er gleich mit Darren führen muss. Obwohl es ein bisschen kurzfristig ist, will er ihn fragen, ob er heute ein paar Stunden später anfangen kann.
    »Ja, Darren? Albert hier.« Sich den imaginären Telefonhörer ans Ohr haltend, schlägt er einen selbstbewussten und zugleich respektvollen Ton an. »Die Sache ist die, ich muss aufs Wohnungsamt. Feuchtigkeitsschaden. Es müsste in höchstens ein, zwei Stunden erledigt sein. Aber dann komme ich, so schnell es geht.« Er dreht sich zu Gloria um, die majestätisch auf ihrer frisch bereiteten Lagerstatt thront. »Da kann er doch nicht nein sagen, oder?«
    Gloria behandelt ihn wie Luft. Sie hat nur Augen für das Fenster.
    »Dabei weiß ich gar nicht, warum ich mich so anstelle. Je näher mein Abschied rückt, desto weniger interessiert sich irgendwer dafür, was ich mache.« Es ist schmerzlich, aber wahr. Mittlerweile hat er das Gefühl, er könnte tagelang fehlen – oder sogar in einem der kaffeefleckigen Pausenraumsessel als Leiche allmählich mumifizieren –, ohne dass es jemandem auffallen würde.
    Als er sich endlich einen Ruck gibt und anruft, verläuft das Telefongespräch etwas anders, als er es sich gedacht hat.
    »Nimm dir doch gleich den ganzen Tag frei«, sagt Darren.
    »Das ist wirklich nicht
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