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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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werden.«
    »Du hättest noch warten können.«
    »Worauf? Machen wir uns doch nichts vor. Wenn man schon jemanden wie ihn heiraten muss, kann man es genauso gut gleich hinter sich bringen. Und jetzt … jetzt ist Sophie fast erwachsen, und ich hab mein Leben immer noch nicht im Griff.«
    »Weißt du was? Schreib doch einfach einen Brief.«
    »An …?«
    »Egal an wen. Du schreibst dir alles von der Seele, und hinterher verbrennst du den Brief.«
    Carol starrt sie ungläubig an.
    »Ein Brief an das Universum«, sagt Helen, als ob damit alles erklärt wäre. »Das ist ein Ritual.«
    »Wenn ich mir schon die Mühe mache aufzuschreiben, was ich denke, wäre es dann nicht besser, den Brief tatsächlich abzuschicken?«
    »Nein, das führte ja zu einer krassen Konfrontation. So funktioniert das Universum aber nicht.«
    »Und was ist mit dem Kometen, der die Dinosaurier ausgerottet hat? War der etwa nicht auf Konfrontationskurs?« Sie wartet, aber Helen gedenkt offensichtlich nicht, ihr darauf zu antworten. »Außerdem kennst du mich doch. Ich habe mein ganzes Leben lang meine Gedanken für mich behalten. Ich müsste langsam mal anfangen, die Konfrontation zu suchen, statt ihr immer nur auszuweichen.«
    »Das dürfte schwierig werden, wenn sich herausstellt, dass Bobs Knoten doch bösartig ist.«
    »Ist er aber nicht«, entgegnet sie so barsch, dass es eher wie eine Zurechtweisung klingt.
    Helen nippt an ihrem Tee. Anscheinend weiß sie, dass sie einen Nerv getroffen hat. »Ich hoffe für ihn, dass du recht hast.«
    Sie haben vereinbart, dass Carol Bob auf der High Street abholt. In der Nähe der Praxis, aber nicht so nah, dass es so aussieht, als ob sie auf ihn warten würde – obwohl sie natürlich genau deshalb dort herumsteht –, weil Bob dabei ein ungutes Gefühl hätte. Das hat er ihr beim Frühstück lang und breit erklärt.
    »Man drückt sich nur vor einer Arztpraxis herum, wenn jemand stirbt.«
    »Ich glaube nicht, dass in Arztpraxen Leute sterben, Bob.«
    »Dann eben vor dem Krankenhaus.«
    »Und wenn eine Frau ein Kind kriegt? Da stehen auch Leute rum und warten.«
    Worauf Bob sie nur wütend angefunkelt hat, mit der unantastbaren Selbstgerechtigkeit des Mannes mit dem Knoten.
    Carol, die es für klüger hält, auf seine Launen einzugehen, trifft zur vereinbarten Zeit vor der Praxis ein, baut sich in Sichtweite des Eingangs auf, aber keinesfalls nah genug, um Bob in ein frühes Grab zu befördern, und wartet.
    Und wartet.
    Als ihr langweilig wird, geht sie ein paar Schritte bis zu einem Reisebüro und studiert die Angebote im Fenster. Es sind nicht nur Flüge und Pauschalreisen, es sind Aufforderungen, zu fliehen und sich neu zu erfinden, dem Glück noch eine zweite Chance zu geben.
    Wenn sie in den ersten Jahren daran gedacht hat, Bob zu verlassen, war Sophie immer Teil dieser Fantasie: Sie fangen zusammen neu an und erkennen, dass das Einzige, was ihrer Beziehung wirklich gefehlt hat, ein Sandstrand und Dauersonnenschein ist. Doch dann haben sich mit der Zeit die Gewichte verschoben. Obwohl Carol sich alle Mühe gegeben hat, aus den Fehlern ihrer eigenen Mutter zu lernen, klafft zwischen Sophie und ihr ein tiefer emotionaler Graben. Manchmal stellt sie sich vor, sie könnte ihn überwinden und ihren Mutterfrust mit einer einzigen Geste der Annäherung loswerden. Öfter allerdings sieht sie sich zu ihrer Tochter auf der anderen Seite des Grabens hinüberblicken und resignieren, einen Schlusspunkt hinter eine Beziehung setzen, die schon vor Jahren jeden Sinn verloren hat.
    Wenn eine andere Mutter ihr so etwas erzählen würde, wäre Carol die Erste, die sie verurteilt – und doch ist es die Wahrheit, ihr dunkles, schäbiges Geheimnis.
    Bevor sie weiß, wie ihr geschieht, findet sie sich in einemSchreibwarengeschäft wieder und kauft einen billigen Notizblock. Sie setzt sich auf eine heruntergekommene Bank und fängt an zu schreiben:
    Liebes Universum,
    ich kann meine Tochter nicht ausstehen.
    Sie starrt auf das, was sie da geschrieben hat. Dann streicht sie den Satz mit solcher Kraft durch, dass der Stift sich durch das Papier drückt.
    »Scheiße.«
    Sie atmet tief durch und fängt noch einmal von vorn an.
    Ich bin eine schlechte Mutter. Was vielleicht nicht nur meine Schuld ist. Schließlich wäre alles anders gekommen, wenn ich ein Kind zur Welt gebracht hätte und kein wandelndes Lexikon.
    Sie hält inne, spürt, was als Nächstes kommt.
    Es wäre sicher alles nicht so schlimm, wenn ich mich nicht in
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