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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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Geheimnis, an das sie seit Jahren nicht mehr rühren. »Wohin es danach geht, weiß ich noch nicht«, fügt sie schnell hinzu. »Hauptsache, weg von hier.«
    »So schlimm ist Croydon doch auch wieder nicht.«
    »Ich bitte dich. So würde es in Mogadischu aussehen, wenn es da Burger King und McDonald’s gäbe.«
    Als mit einem lauten Knall die Haustür ins Schloss fällt, schrecken die beiden Frauen zusammen. Sekunden später kommt Helens Tochter Jane mit der Leichtfüßigkeit eines Bergmanns ins Zimmer gestiefelt.
    Jane hat sich für einen etwas anderen Lebensentwurf entschieden als die nur ein Jahr jüngere Sophie. Sie ist mit Absicht durch sämtliche Prüfungen gerasselt und kleidet und benimmt sich wie jemand, den Carol »zornige junge Lesbe« nennen würde.
    Die Musik ist machtlos gegen die Spannung, die plötzlich in der Luft liegt. Wo Carols Beziehung zu Sophie durch eine breite intellektuelle Kluft gekennzeichnet ist, hat Helen mit ihrerTochter ein grundlegenderes Problem: Jane hasst sie. Die Verachtung, die sie ihr entgegenbringt, ist unübersehbar und in ihrer Intensität beinahe elektrisierend. Und wenn Carol ihre Freundin ansieht, versteht sie auch sofort, warum Jane ihre Mutter hasst: Trotz aller Selbsthilferatgeber und Yogakurse ist sie nur noch ein Häufchen Elend. Als hätte ihr die Scheidung den Stöpsel aus der Badewanne gezogen, als wäre von ihrem Leben nichts mehr übrig als ein speckiger Seifenrand.
    »Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragt Helen.
    Carol nimmt sich vor, ihr dafür später ins Gewissen zu reden. Es ist nicht besonders cool, einem Teenager Tee anzubieten, und schon gar nicht einem Teenager wie Jane, für die es nichts Wichtigeres zu geben scheint, als Klebstoff zu schnüffeln und möglichst jung zu sterben.
    Es kommt, wie es kommen muss. Jane dreht sich wortlos um und geht. Ihr schwerer Schritt auf der Treppe bekundet, dass sie nicht nur zornig, sondern auch um einiges zu dick ist.
    »Ist schon komisch«, sagt Helen. »Man denkt immer, dass aus dem eigenen Kind mal ein vernünftiger, erfolgreicher Mensch wird. Jemand, der was auf dem Kasten hat.« Sie sieht zur Decke, als wäre sie auf alles gefasst – laute Musik vielleicht oder das Kreischen einer Kettensäge. »Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie tatsächlich lesbisch ist oder einfach nur eine gruslige Heterosexuelle.« Sie kaut an einem Fingernagel. »Ich wüsste zu gern, was ihr Vater darüber denkt, aber der interessiert sich natürlich mehr für anderer Leute Kinder. Ganz nach dem Motto: Das ist noch eine Altlast von meinem ersten Familienexperiment.«
    »Helen, er ist ein Schwein.«
    »Seine neue Frau scheint da anderer Ansicht zu sein.«
    Carol trinkt ihren Tee, der einzige Akt schwesterlicher Solidarität, zu dem sie sich momentan aufschwingen kann, auch wenn sie sich beherrschen muss, nicht bei jedem Schluck angewidert das Gesicht zu verziehen. Aber vermutlich würde Helen das in ihrem aufgelösten Zustand sowieso nicht mitbekommen.
    »Es ist ja auch ein schwieriges Alter«, fährt Helen schließlich fort. »In ein, zwei Jahren hat sich bestimmt alles wieder eingerenkt.« Obwohl sie nicht so klingt, als ob sie selbst daran glaubt, scheint es ihr gutzutun, ihre Hoffnung laut ausgesprochen zu haben. »Und was macht Sophie?«
    »Spielt mal wieder die große Unsichtbare. Pflegt ihr Genie.«
    »Eine intelligente, vernünftige Tochter. Wie hältst du das bloß aus?« Kläglich versucht sie, sich ein Lächeln abzuringen. »Weiß sie das mit dem Knoten?«
    »Nein, wir wollen sie nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen. Obwohl es sie wahrscheinlich sowieso nicht jucken würde.«
    »Carol!«
    »Wenn es aber doch stimmt! Sie hat so viel Gefühl wie ein Laserdrucker. Und sie hat keinerlei Selbstzweifel. Sie glaubt tatsächlich, sie kann im Leben alles erreichen.«
    »Ist das so schlimm?«
    »Ach, ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch nur neidisch.« Sie trinkt noch einen Schluck Tee – großer Fehler. »Ich hab vor ein paar Tagen ein Foto von mir gefunden. 1993, frisch von der Uni. Ich dachte, die Welt gehört mir. Ein Jahrzehnt wie die Achtziger, bloß mit besseren Frisuren und kleineren Telefonen. Und ich? Bin im siebten Monat schwanger.«
    Sie starrt in ihre Tasse; die dunkle, bittere Brühe kommt ihr immer mehr wie ein Sinnbild ihres Lebens vor.
    »Eine Muss-Ehe mit zwanzig war nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte. Und schon gar nicht, von einem Mann wie Bob zum Traualtar geschleift zu
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