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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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im Wohnzimmer, die Beine im Gips, der Verstand hellwach, und blickt hinaus auf die blinkenden Flugzeuge, die auf die Landeerlaubnis für Heathrow und Gatwick warten.
    Sie hat es schon oft gesehen, aber sie wird nie begreifen, dass sich die Maschinen in einer scheinbar endlosen Warteschleife befinden, so, als verbrächten die Passagiere ihr Leben wie in einer Falle, sich immerfort im Kreis bewegend, ohne jemals anzukommen.

LEBEN

7
    »Wolltet ihr nicht zusammen zum Arzt?«
    »Er ist dann doch lieber allein hingegangen«, sagt Carol. »Aber ich soll ihn hinterher abholen.«
    Helen, ihre beste Freundin, schenkt ihnen Kräutertee ein, dessen Farbe genauso scheußlich ist wie sein Geruch. Im Hintergrund läuft eine Platte von Kenny G, ein Gedudel, das ganz wunderbar in ein feuchtes Reihenhaus in Croydon passt.
    »Meinst du, er wird wieder?«, fragt Helen.
    »Wer weiß? Ich hoffe es.«
    »Schön, dass du dich noch um ihn sorgst.«
    »Statt mir zu wünschen, dass er stirbt?«
    »Ich meine ja bloß … so eine Trennung kann hässlich ausarten.« Sie verzieht den Mund. Offenbar muss sie an ihre eigene, drei Jahre zurückliegende Scheidung denken, die sie noch nicht verwunden hat. »Und wie geht es dir? Wie kommst du klar?«
    »Ach Gott, wenn ich das wüsste. Natürlich mache ich mir Sorgen um ihn, aber irgendwie komme ich mir dabei vor wie der Junge aus Äsops Fabel, der ›Wolf‹ schrie. Bob gehört zu den Männern, die beim kleinsten Schnupfen denken, sie müssen sterben. Kaum surft er eine halbe Stunde im Internet, schon hat er Leukämie und Typhus bei sich diagnostiziert.«
    »Aber der Knoten ist echt?«
    »Ja. Ich durfte ihn sogar fühlen.«
    Helen reißt die Augen auf, ob aus Interesse oder Erregung, lässt sich nicht sagen. »Und?«
    »Was soll ich sagen? Es ist ein Knoten. Ich war bloß heilfroh, dass er nicht auch noch mit mir schlafen wollte.« Kenny stimmt Let it be an. Carol hat die Nase voll. »Müssen wir uns eigentlich dieses Gedudel anhören?«
    »Ist doch entspannend.«
    »Und wieso wünsche ich dem Kerl dann die Pest an den Hals?«
    »Instrumentalstücke sollen eine beruhigende Wirkung haben. Bei Stress.«
    Carol nickt und belässt es dabei. Sie waren schon auf der Uni dicke Freundinnen – damals allerdings nur im übertragenen Sinne. Aber nach wie vor kann ihr unterschiedlicher Musikgeschmack ihrer Freundschaft nichts anhaben.
    Oder ihre unterschiedlichen Teevorlieben.
    Sie rührt nachdenklich in ihrer Tasse, aber das ist auch schon das höchste der Gefühle. Trinken wird sie die Brühe jedenfalls nicht. Die Zeit ist reif, ihr Geheimnis zu lüften. »Ich wollte Bob gestern verlassen.«
    Helen scheint nicht überrascht. »An einem Dienstag? Wie originell.«
    »Wieso? Gibt es einen gesellschaftlich akzeptierten Tag für Trennungen? Macht man das eher am Wochenende?«
    »Das fragst du mich? Weil ich als Eheversagerin so viel Erfahrung habe?«
    »Hast recht, entschuldige. So war das nicht gemeint.«
    »Schon gut. Schließlich stimmt es ja auch.« Ihre geknickte Miene harmoniert perfekt mit ihrem handgestrickten Pullover, einem wollenen Ungetüm in Dunkelbraun.
    »Ich hatte so einen fürchterlichen Tag im Büro«, sagt Carol, »und auf einmal wusste ich, dass es so nicht weitergehen kann.«
    »Du hättest auch einfach die Stellenanzeigen lesen können.«
    »Damit ich wieder in einem genauso beschissenen Job lande? Statt stumpfsinnigen Papierkram für eine Versicherung was Ödes für eine andere Firma machen? Und jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, wartet Bob auf mich? Das ist doch das eigentliche Problem. Dass ich mein Leben mit jemandem teilen muss, den ich nicht liebe.«
    Schweigen.
    »Diesmal hätte ich es durchgezogen. Wirklich.«
    »Willst du mich überzeugen oder dich selber?«
    »Er hat einen Knoten im Hoden! Würdest du einen Mann sitzenlassen, der bei sich gerade einen Knoten im Hoden gefunden hat?«
    »Muss man denn jemanden, mit dem man achtzehn Jahre verheiratet ist, überhaupt in die Wüste schicken? Kannst du das nicht anders lösen?«
    »Vielleicht mit einer Knarre.« Carol seufzt. Sie ist so in Gedanken, dass sie aus Versehen fast von ihrem Tee trinkt. »Sobald die Ärzte Entwarnung geben, bin ich weg.«
    Sie merkt nicht, dass Helen die Angst ins Gesicht geschrieben steht, ihre einzige echte Freundin zu verlieren.
    »Und wohin willst du?«
    »Auf jeden Fall erst mal nach Athen …« Sie beißt sich auf die Zunge. Schließlich kennt Helen den wahren Grund für dieses Reiseziel, das
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