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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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die Initiative zu ergreifen. Ihr erster Schritt in die Freiheit.
    »Nein, es war eine Spontanidee. Mir … mir ist zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen.«
    »Eigentlich hatte ich gehofft, wir könnten uns mal unterhalten.«
    Bob macht ein erschrockenes Gesicht. »Wer? Wir? Du und ich?«
    »Ja, Bob. Du und ich.«
    Plötzlich reißt er die Augen auf, und Carol glaubt im ersten Moment fast, er hätte einen Schlaganfall – ein praktisches Ende einer Ehe, schon wahr, aber keines, das sie gern bei neunzig Stundenkilometern erleben möchte.
    »Was ist, Bob? Hast du was?«
    Er blickt starr geradeaus.
    »Bob? Bob, halt an!«
    Nichts.
    »Bob! Fahr links ran! Sofort!«
    Endlich werden sie langsamer.
    Als der Wagen zum Stehen gekommen ist, hängt Bob zusammengesunken in seinem Sitz. »Dann weißt du es also?«
    Carol ist völlig perplex. Sekundenlang hat sie sogar vergessen, dass sie ihn verlassen will. »Was weiß ich?«
    »Deshalb wollte ich doch auch heute Abend mit dir in den Pub.«
    »Bob …«
    »Um auf andere Gedanken zu kommen.«
    »Bob …«
    »Um mich abzulenken.«
    »Verdammt, jetzt rück schon raus mit der Sprache.«
    Er fängt an zu weinen. »Ich habe einen Knoten. Am Hoden.«
    »Oh, Mist. Du Armer …« Als sie ihm die Hand auf den Arm legen will, rastet ihr Sicherheitsgurt ein. Sie kann sich erst zu ihm rüberbeugen, als sie es geschafft hat, sich loszuschnallen. »Vielleicht hat es ja gar nichts zu bedeuten.«
    »Ich habe gehofft, er geht von selber wieder weg, aber …«
    Sie hält seine Hände, selbst erstaunt, wie viel echte Zuneigung sie für ihn aufbringen kann. »Ist ja gut. Ich verstehe schon.«
    »Ich dachte, wenn wir Darts spielen … ich weiß auch nicht. Es klingt verrückt, aber ich dachte, es würde mir Glück bringen.«
    »Aber du hast nicht gewonnen.«
    »Nein.« Er weint noch heftiger.
    »Bob …«
    »Stell dir doch mal vor, ich verliere meine Eier.«
    Obwohl bei Carol in Sachen Mitgefühl der Autopilot die Steuerung übernommen hat, kann sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass Bob ein Mittvierziger in einer praktisch sexfreien Ehe ist – seine Eier sind schon seit Jahren überflüssiger Ballast.
    »Und wenn es sich schon ausgebreitet hat?«, sagt er mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
    »Vielleicht ist es ja nichts Ernstes, Bob. Nur eine Geschwulst.«
    Er verbeißt sich die Tränen. »Ich will nicht sterben.«
    Und in diesem Augenblick tut er ihr wirklich leid, dieser erwachsene Mann, der seiner Angst so hilflos ausgeliefert ist.
    »Morgen früh gehen wir als Erstes zum Arzt, okay?«
    Sie sieht den Arzt schon lachen, hört ihn sagen, dass es nicht der Rede wert ist, lediglich ein körperliches Symptom von Bobs mentalem Verfall. Dann kann sie ihm auf dem Heimweg sagen, dass sie ihn nicht liebt. Und nie geliebt hat. Eine gepfefferte Dosis Realität und eine Antibiotikakur, und sie und der Knoten werden für immer aus seinem Leben verschwunden sein.
    Aber dieser Blick, mit dem er zu ihr aufsieht, so flehend, verzweifelt, starr vor Angst.
    »Gott«, sagt er. »Ich liebe dich so.«
    »Ich weiß.« Mehr bringt sie nicht heraus. Doch er sieht sie immer noch an, ein verängstigter Mann mit einem ominösen Knoten, ein Mann, dem ein paar einfache Worte so viel bedeuten würden.
    »Und ich …«, fügt sie, fast ohne zu stocken hinzu, »liebe dich auch.«

ALBERT

4
    »Ich glaube, sie hängt.«
    »Das hab’ ich auch schon gemerkt, Albert.«
    »Wahrscheinlich eine lose Briefmarke oder so.«
    Albert lugt mit angstvoller Miene in die Sortiermaschine. Sie erinnert ihn an den Teilchenbeschleuniger aus dem Fernsehen, der angeblich alle Rätsel des Universums erklären kann. Die Maschine hier im Briefzentrum der Royal Mail ist natürlich sehr viel kleiner – sie bildet zum Beispiel keinen vierzig Meilen großen Ring unter Südlondon –, aber sie hat trotzdem etwas Unheimliches an sich. Er kann sich noch an die Namen aller Kollegen erinnern, die durch sie ersetzt worden sind, und sie ist, ehrlich gesagt, auch noch klüger als sie alle zusammen, was die Frage aufwirft: Wieso sollte man ein derart intelligentes Gerät nur zum Briefestapeln benutzen? Genauso gut könnte man Einstein bitten, eine Tasse Tee zu kochen.
    »Das Ding hat Geheimnisse«, sagt er. »Denk an meine Worte.«
    »Wie war das, Albert?« Der Auszubildende verzieht genervt das Gesicht. Für ihn scheint es ein Naturgesetz zu sein, dass alte Leute nur wirres Zeug von sich geben.
    »Ich hab’ gesagt, ich kann dir auch nicht
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