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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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eine Strecke von zehn Meilen geschlagene vier Tage gebraucht hat. Das kennt er alles zur Genüge. Am besten wäre es wohl, die Jacke nur hin und wieder zu Hause anzuziehen, an Sonntagen vielleicht. Aber wenn er an die Zukunft denkt, sieht sowieso jeder Tag wie ein Sonntag aus.
    Gloria miaut kläglich. Sie ist unzufrieden wegen … na ja, wegen allem eigentlich.
    »Sieh dich nur an. Sie haben dich in eine Waffe verwandelt, was? Mit deinen Beinen könnte ich jemanden erschlagen.«
    Der Gedanke macht ihm Mut. Er drückt die Schultern durch und wagt sich tiefer hinein in das Labyrinth aus Hochhäusern mit graffitibesprühten Fassaden und düsteren Treppenhäusern, das er sein Zuhause nennt.

6
    Obwohl Alberts Frau seit fast vierzig Jahren tot ist, hat sich in der kleinen Wohnung, in der sie nur so kurz glücklich waren, nicht viel verändert. Das Bett, in dem sie gestorben ist, steht noch da, die Sprungfedern etwas ausgeleiert, aber ansonsten in Schuss. Der Kleiderschrank, in dem ihre Sachen hingen, steht im Schlafzimmer, wenn auch wesentlich schlechter aufgeräumt, als es ihr gefallen hätte. Hier und da finden sich sogar noch ein paar Stücke von ihr darin – ein verblichener Handschuh, ein muffiger Schal – bittersüße Erinnerungen an ein längst vergangenes Leben.
    Die vielleicht größte Veränderung hat Albert selbst durchgemacht: der Haaransatz, der wie eine langsam abfließende Ebbe immer weiter zurückweicht, die einst jugendlich straffe Haut ein Opfer des Alters und der Schwerkraft.
    Er betrachtet sich im Spiegel, weniger aus Eitelkeit als aus Interesse.
    »Na, wenigstens habe ich noch meine eigenen Zähne«, sagt er zu Gloria.
    Mit zwei gebrochenen Beinen ist ihr das wahrscheinlich herzlich egal. Während sie wegen der Schmerzen oder aus Langeweile blinzelt, bewundert Albert sein Gebiss von allen Seiten. Jedes Mal, wenn er im Supermarkt Zahnpasta kauft, möchte er am liebsten sein Gebiss vorzeigen. Das ist sein Traum: »Gucken Sie mal, ich hab noch alle meine Beißer!«, will er rufen, die Zähne gefletscht wie ein Affe, der zum Angriff übergeht. Man würde ihn für verrückt halten. Und wer will sich schon nachsagen lassen, dass er zwar noch alle Zähne im Mund, aber nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?
    Ihm ist gar nicht bewusst, wie traurig ihn dieser Gedanke macht, genauso wenig, wie er erkennt, dass er vor seiner Zeit gealtert ist. Er dreht dem Spiegel den Rücken zu.
    »So, Gloria. Ab ins Bettchen.« Sorgfältig baut er um sie herum ein weiches Nest aus Toilettenpapier. »Und mach dir keine Sorgen, wenn du mal … austreten musst. Lass es einfach laufen, ich mach es dann morgen weg.«
    Er setzt ein zuversichtliches Lächeln auf, auch wenn er, ehrlich gesagt, selbst nicht so genau weiß, wie das mit ihrem Geschäft gehen soll.
    »Und ich lasse die Schlafzimmertür auf, du brauchst nur zu rufen, wenn du mich brauchst.«
    Mit einem rätselhaften Blinzeln dreht sie sich zum Fenster.
    Sie will sterben, denkt Albert. Sie wartet bloß auf einen günstigen Moment, dann springt sie wieder.
    Während Gloria aus dem Fenster starrt, blickt Albert auf den großen Schimmelfleck, der darüber an der Wand prangt, die Ursache all seiner Probleme. Deswegen hat er heute Morgen das Fenster offen gelassen, weil er ein bisschen lüften wollte, und was hat er nun davon? Eine verkrüppelte Katze. Und der Schimmelfleck ist sogar noch größer geworden.
    Aber darüber will er jetzt nicht mehr nachdenken. Er macht das Licht aus und geht ins Schlafzimmer. Bevor er sich ins Bett legt, bleibt er noch kurz vor dem Foto seiner Frau in dem angelaufenen Silberrahmen stehen, der in seinem Haushaltschaos schon fast untergegangen ist.
    »Gute Nacht, Schatz.«
    Wie ein scheues Reh lächelt sie zu ihm hoch, ewig gefangen in den Sechzigerjahren, in dieser seltsamen neuen Welt, die ihr so fremd war und die sie nie verstanden hat.
    Er drückt auf den Lichtschalter, und der Tag ist vorbei.
    Im Dunkeln schmiegt Albert sich in die Matratzenkuhle. Dass er Angst vor dem Morgen hat und sich fürchtet, das wenige zu verlieren, was er besitzt, hat er sich noch nie eingestanden. Er tut dieses Gefühl einfach als Sodbrennen ab.
    »Ich muss mir wirklich was gegen Sodbrennen besorgen«, murmelt er. Er schlingt den Arm um ein zerschlissenes altesKopfkissen, schließt die Augen und schläft ein, während sich um ihn herum die Welt knirschend weiterdreht, begleitet von fernem Sirenengeheul und schrillenden Autoalarmanlagen.
    Derweil hockt Gloria reglos
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