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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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erschlafft und kalt wird?
    Carol hat gar nicht gemerkt, dass Mandy immer noch redet.
    »… und was will man an einem Dienstag sonst schon groß unternehmen?«
    Carol wirft einen Blick auf ihre Einkaufstüte, aus der der Nachtisch fast oben herausschaut. »Es ist nur, weil ich mit Bob etwas besprechen wollte.«
    »Aber das kannst du doch auch im Pub machen, Dummerchen! Soll ich dich in einer halben Stunde abholen?« Fast mitleidig lässt sie den Blick über Carols Kleid schweifen. »Dann kannst du dich vorher noch umziehen.«
    Bei Carol zu Hause sieht es aus, als hätten Einbrecher gewütet, es herrscht das reinste Chaos, als wäre das Haus während ihrer Abwesenheit von einem Riesen aus seinem Fundament gehoben und durch die Gegend gekickt worden.
    Obwohl sie davon ausgeht, dass ihre Tochter daheim ist, bleibt sie am Fuß der Treppe zögernd stehen. Dass sich ein Teenager in einem kleinen Einfamilienhaus völlig unsichtbar machen kann, sagt in Carols Augen alles: Sophie besitzt einen Guerillainstinkt, von dem sich die Vietcong oder Taliban eine Scheibe abschneiden können.
    »Sophie?«
    Nichts.
    Sie überlegt, ob sie nach oben gehen und hallo sagen soll, im Dienste des guten Mutter-Tochter-Verhältnisses, um das sie sich seit siebzehn Jahren vergeblich bemüht, entscheidet sich dann aber doch dagegen. Ein simpler Dialog mit Sophie kommt in letzter Zeit so selten zustande, dass es besser ist, sich diesen Versuch für eine Gelegenheit aufzuheben, bei der sie tatsächlich etwas Wichtiges zu sagen hat: »Ja, ich verlasse euch.« – »Nein, ich komme nicht zurück.«
    Bei diesem Gedanken machen sich bei Carol leise Gewissensbisse bemerkbar, aber nicht etwa, weil sich dieses Gespräch nicht vermeiden lässt, sondern, weil sie sich darauf freut. Dabeiist an Sophie im Grunde gar nichts auszusetzen, bis auf die Tatsache, dass Carol sich ein anderes Kind ausgesucht hätte, wenn sie es per Katalog hätte bestellen können. Das Einzige, was sie an ihrer Tochter wirklich versteht, sind die Eigenschaften, die sie von Bob geerbt hat – so zum Beispiel das Talent, das Haus in ein Schlachtfeld zu verwandeln, gepaart mit der festen Überzeugung, dass Carol die Spuren der Verwüstung schon wieder beseitigen wird. Alles andere an Sophie erscheint ihr seltsam fremd und unbegreiflich. Sogar ihre Intelligenz kommt Carol wie ein Produktionsfehler vor. Wie konnte aus dem Erbgut, mit dem sie geschlagen ist, ein derart kluges, fleißiges Kind entstehen? Carol weiß darauf keine Antwort. Die Frage löst in ihr das unbestimmte Gefühl aus, dass sie, indem sie die Tochter bekommen hat, die sich jeder wünscht, auf die Tochter verzichten musste, die sie liebt und braucht.
    Möglicherweise kann sie mit dem Lärm, den sie beim Auffüllen des Kühlschranks macht, wenigstens eine körperliche Reaktion bei Sophie auslösen – schließlich müssen auch Intelligenzbestien essen. Also nimmt sie sich als Erstes den Nachtisch vor, packt ihn umständlich aus und stellt ihn auf einen Teller, den sie mit lautem Klappern ins Fach schiebt.
    Von oben nur bedrückende Stille. Carol beschließt, doch nicht in den Pub zu gehen – vielleicht macht sie Mandy noch nicht mal die Tür auf, wenn die sie, in die unvermeidliche Parfümwolke gehüllt, abholen will. Sie wird zu Hause auf Bob warten und dann in aller Ruhe ihr gemeinsames Leben zerstören, wie ein Schmetterling, der seinen Kokon zerreißen muss, um zu leben.

3
    Aber natürlich ist sie in den Pub gegangen, und natürlich hat sie sich den ganzen Abend wie gelähmt gefühlt, wie in all den Jahren, in denen sie es nicht geschafft hat, Bob endlich zu verlassen. Bloß andere nicht enttäuschen – das Gefühl kennt sie zur Genüge. Dennoch weiß sie, inmitten all dieser Leute, die versuchen, sich die Sinnlosigkeit ihres Lebens schönzutrinken, dass heute der Abend ist, an dem sie sich befreien wird.
    Als sie endlich im Auto sitzen, ihrem dreitürigen Vorstadt-Kokon, abgeschottet vom nächtlichen Croydon mit all seinen Tragödien, schweigen sie sich an, was ihnen sonst gar nicht ähnlich sieht. Carol muss an die Tiere denken, die ein Erdbeben Stunden oder gar Tage vorher erahnen können. Sie wirft einen Blick auf Bob, der am Steuer sitzt. Könnte sie hier und jetzt seinen Schädel öffnen, würde sie nichts darin finden als einen leeren Hohlraum, in dessen Dunkel höchstens ein kleines rotes Lämpchen blinkt.
    »Ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir heute in den Pub gehen«, sagt sie. Es fühlt sich gut an,
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