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Auge um Auge

Auge um Auge

Titel: Auge um Auge
Autoren: Siobhan Vivian , Jenny Han
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M ARY  Der Morgennebel hat alles in weiße Farbe getaucht. Es ist genau wie in meinen Träumen, wenn ich mich in einem Kaninchenloch gefangen fühle oder auf einer Wolke dahinschwebe und es mir einfach nicht gelingen will, wach zu werden.
    Auf einmal ertönt dröhnend das Nebelhorn, die dichten Schwaden reißen auf und werden zu feiner durchbrochener Spitze.
    In diesem Moment weiß ich es sicher: Ich hab’s gepackt. Ich bin tatsächlich zurückgekommen.
    Einer der Arbeiter macht mit einem dicken Seil die Fähre an der Anlegestelle fest, ein anderer lässt die Rampe herunter. Über Lautsprecher ertönt die Stimme des Kapitäns: »Guten Morgen, verehrte Fahrgäste, willkommen auf Jar Island. Bitte vergewissern Sie sich, ob Sie auch nichts an Bord zurückgelassen haben.«
    Fast hatte ich vergessen, wie schön es hier ist. Die Sonne steht jetzt über dem Wasser und taucht alles in leuchtend gelbes Licht. Im Fenster erkenne ich schwach mein Spiegelbild – helle Augen, leicht geöffnete Lippen, windzerzaustes Haar.
    Ich bin nicht mehr die, die ich war, als ich von hier wegging, damals, in der Siebten. Klar, ich bin älter, aber das allein ist es nicht. Ich habe mich verändert. Wenn ich mich jetzt sehe, empfinde ich mich als stark. Vielleicht sogar als hübsch.
    Ob er mich wiedererkennt?
    Bloß nicht , hofft ein Teil von mir. Doch der andere Teil, der, der die Familie verlassen hat, um hierher zurückzukehren, der hofft darauf. Er muss mich erkennen. Falls nicht – wozu dann das Ganze ?
    Auf dem Autodeck lassen die Fahrer schon mal den Motor an. Vor uns am Ufer, in einer langen Schlange, die bis zum Parkplatz reicht, warten noch viel mehr Autos auf die Rückreise aufs Festland.
    Noch eine letzte Woche Sommerferien.
    Ich trete vom Fenster zurück, streiche mein Sommerkleid aus Seersucker glatt und gehe zurück an meinen Platz, um meine Sachen zu holen. Der Platz neben mir ist frei. Ich strecke die Hand aus und taste unter dem Sitz. Ich weiß, dass sie da sind: Seine Initialen, RT . Ich erinnere mich an den Tag, an dem er sie mit seinem Schweizermesser hineingeschnitzt hat, einfach so, weil ihm gerade danach war.
    Ich frage mich, ob sich auf der Insel irgendetwas verändert hat. Ob es bei Milky Morning noch immer die besten Blaubeermuffins gibt? Und ob das Kino in der Hauptstraße wohl immer noch diese klumpigen grünen Samtsitze hat? Wie groß mag der Flieder in unserem Garten inzwischen sein?
    Ich komme mir vor wie eine Touristin, und das ist ein eigenartiges Gefühl, schließlich hat meine Familie im Grunde schon immer auf dieser Insel gelebt. Mein Urururgroßvater hat die öffentliche Bibliothek selbst entworfen und gebaut. Eine der Tanten meiner Mom wurde als erste Frau in Middlebury zur Gemeinderätin gewählt. Die Gräber unserer Familie liegen alle mitten auf dem Friedhof, der wiederum mitten auf der Insel liegt. Einige der Grabsteine sind so alt und moosbewachsen, dass man nicht einmal mehr lesen kann, wer genau dort ruht.
    Jar Island besteht aus vier kleinen Städten: Thomastown, Middlebury (wo ich herkomme), White Haven und Canobie Bluffs. Jeder Ort hat seine eigene Mittelschule, doch anschließend gehen alle Jugendlichen gemeinsam auf die Jar Island High School. Wegen der vielen tausend Besucher schwillt im Sommer die Bevölkerung rasant an, doch nur an die Tausend Menschen leben das ganze Jahr über hier.
    Jar Island ändert sich nie , sagt meine Mutter immer. Es ist ein eigenes kleines Universum. Irgendetwas an dieser Insel macht die Menschen glauben, die Welt habe aufgehört, sich zu drehen .
    Vermutlich macht genau das einen Teil des Zaubers aus, und vermutlich kommen genau deshalb so viele immer wieder her. Genau deshalb nehmen wohl auch einige Unerschrockene geduldig die Mühen in Kauf, die es bedeutet, das ganze Jahr über hier zu leben. So wie meine Familie früher.
    Hier auf Jar Island findet man keine einzige Filiale von Kettenläden, kein Einkaufszentrum und auch keine Fast-Food-Restaurants, und gerade das gefällt den Leuten. Laut Dad gibt es an die zweihundert Gesetze und Bestimmungen, nach denen all das hier illegal wäre. Hier kauft man Lebensmittel auf dem Wochenmarkt, Medikamente gibt’s in der Apotheke mit angeschlossenem Getränkeausschank, und die passende Strandlektüre findet man in kleinen, unabhängigen Buchhandlungen.
    Was Jar Island noch so besonders macht, ist die Tatsache, dass es eine richtige Insel ist. Sie ist nicht durch Brücken oder Tunnel mit dem Festland verbunden. Es
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