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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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ihn zu erklimmen. Nicht aus touristischem Interesse, dazu ist sie noch viel zu aufgewühlt; eher, um sich Bewegung zu verschaffen, aus therapeutischen Gründen – empfiehlt man Depressiven nicht immer, an die frische Luft zu gehen?
    Die Gassen sind viel steiler, als sie aussehen, und Carol hat das Gefühl, als wolle der Gipfel, der gar nicht näher zu kommen scheint, sie verspotten. Wenn sie jetzt schon schlapp macht, wird sie es nie ganz bis nach oben schaffen. Als sie den Wegweiser zur Standseilbahn entdeckt, ist ihre Wanderlust längst erlahmt. Da sie ihre mangelnde Fitness dem Athener Smog und nicht etwa schlechten Ernährungsgewohnheiten und jahrelangem Bewegungsmangel zuschreibt, fällt es ihr nicht schwer, sich für die Bahn zu entscheiden. Sanft schaukelnd fährt sie eine Steigung hinauf, die sie zu Fuß bestimmt umgebracht hätte, und tröstet sich mit dem Gedanken, dass ihr Körper bei den Anstrengungen des ersten Streckenabschnitts schon genug Endorphine ausgeschüttet hat. Man muss es schließlich nicht übertreiben.
    Während Carol noch darauf wartet, dass der Zug aus dem Tunnel wieder herausfährt, ist er schon an der Bergstation angekommen. Kaum ist Carol ins Tageslicht hinausgetreten, fühlt sie sich, als sei sie gerade durch einen Geburtskanal aus Beton neu geboren worden. Ihre Passage durch das steinerne Herz des Berges hat sie nicht nur ganz real, sondern auch innerlich auf eine höhere Ebene katapultiert. Von diesem Aussichtspunkt breitet sich Athen in alle vier Himmelsrichtungen unter ihr aus,bis zu den Gebirgszügen und dem Meer in der Ferne. Die Stadt hat ihre Erwartungen enttäuscht, doch nach den letzten Tagen – von den vergangenen achtzehn Jahren ganz zu schweigen – wiegt dieser Blick einiges wieder auf. Bei aller Hässlichkeit und allen Verschandelungen kann Carol sich dem Zauber Athens nicht entziehen – und mittendrin erhebt sich majestätisch der Parthenon auf seinem Felspodest.
    Sie ermahnt sich, nicht zu euphorisch zu sein. Schließlich ist sie eine schreckliche Person, die als Ehefrau und Mutter versagt hat. Doch sobald sie den Blick wieder über das Panorama schweifen lässt, wird ihr leichter ums Herz.
    Noch gehobener wird ihre Stimmung auf dem Weg nach unten, auf Zickzackwegen über die bewaldeten Bergflanken. Hin und wieder weht sie der würzige Duft von Thymian und Salbei an, Aromen, die sie bis jetzt nur aus Kräutertütchen kannte.
    Welch ein Kontrast zu den Supermarktregalen, zwischen denen sie sich in Croydon herumgedrückt hat! So unwahrscheinlich es ihr vorkommen mag, aber sie ist auf dem besten Wege, zu einem der Menschen zu werden, die sie immer kennenlernen wollte, nicht bloß eine Frau, die mit Wildkräutern kocht, sondern eine, die zwischen ihnen umherwandert, unabhängig und frei. Sie möchte es laut heraussingen, es dem nächstbesten Passanten erzählen – wie sie sich neu erfunden hat, wie sie die Hoffnung wiederentdeckt hat, die sie erloschen glaubte. Sie wünscht sich, ihr Vater könnte sie jetzt sehen, stellt sich vor, wie er die Lippen zu einem qualvollen Lächeln verzieht – zum Zeichen, dass er innerlich die Faust in die Luft reckt und von allen Dächern verkündet, dass seine Tochter endlich erwachsen geworden ist, dass sich das Mädchen, das sich vor so vielen Jahren selbst abhandenkam, endlich gefunden hat.
    Auch nachdem der Wald in verstopfte Straßen übergegangen ist, schreitet Carol wie beflügelt aus, erstaunlich unberührt von all dem Gewühl. Athen ist ihre Stadt, nicht trotz, sondernwegen ihrer Unvollkommenheiten. Überall Bausünden, verhunzte Schönheit, und doch tobt das Leben munter weiter. Für Carol sind diese Straßen ein Trost.
    Sie biegt um eine Ecke, und der Parthenon kommt in Sicht. Ihr Lächeln sagt alles: Das Blatt hat sich gewendet, alles ist wieder möglich.

72
    Sie hat sich gewundert, als die Post kam. Zwar stand ihr Name auf dem Umschlag, und der Brief, in einer gestochen scharfen Handschrift, begann mit den Worten »Liebe Sophie«, aber sie hatte trotzdem keine Ahnung, wer der Absender war.
    Am liebsten hätte sie ihren Vater gefragt, ob er je von einem Albert gehört hatte, aber die Wochen nach dem Auszug ihrer Mutter waren nicht die beste Zeit, um mit ihm ein Gespräch zu führen. Also las sie den Brief stattdessen ein ums andere Mal, in der Hoffnung, auf diese Weise vielleicht Alberts exakte Position im Dunstkreis der Familie bestimmen zu können.
    Mit einigen Aspekten der Ehe ihrer Eltern schien er jedenfalls recht
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