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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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woran er glauben kann. Gibt es eine bessere Grundlage für eine lebenslange Freundschaft?
    Als er schließlich in ihre Sackgasse einbiegt, atmet er auf. Im Krankenhaus hat er sich manchmal vorgestellt, wie es wohl wäre, wenn Carol und ihre Nachbarn beschlossen hätten, mir nichts, dir nichts wegzuziehen – und vorher noch schnell ihre Häuser dem Erdboden gleichzumachen. Deshalb hätte es ihn nicht überrascht, nur noch verwüstete Grundstücke vorzufinden. Damit wäre jede Hoffnung dahin, Carol jemals wieder aufzuspüren.
    Aber nein, alles sieht noch genauso aus wie beim letzten Mal. Die Fahne flattert, wenn auch zunehmend in Auflösung begriffen, hoch über der Siedlung im Wind, der Garten ist nach wie vor gut gepflegt, und Carols Haus ist auch noch da, und diesmal steht ein Auto in der Einfahrt.
    Mit festem Schritt, den er zu Hause extra geübt hat, geht Albert zum Haus und läutet.
    Nach einiger Zeit kommt Bob an die Tür, zerzaust und mit roten, verquollenen Augen.
    Er steht da und guckt nur, wartet offenbar, dass Albert etwas sagt.
    »Ist Carol da?«
    Bob fängt an zu weinen.
    »Es tut mir leid«, sagt Albert automatisch.
    »Nein, nein, es ist nur …« Er wirft einen Blick auf die Uniformjacke. »Worum geht es denn?«
    »Ach, ich … ich komme von der Post. Es handelt sich um einen Brief von Carol.«
    Bob fröstelt in der Kälte. »Sie kommen wohl besser erst mal mit rein.«
    Kaum hat Albert das Haus betreten, ist ihm klar, dass hier etwas sehr im Argen liegt. Alle Vorhänge sind zugezogen, der Boden ist mit leeren Verpackungen übersät. Bob tapert ins Wohnzimmer, blind für die Müllkippe, auf der er lebt.
    »Meine Frau hat mich verlassen …« Schluchzend lässt er sich in einen Sessel fallen. »Ich … ich weiß nicht, was ich machen soll …«
    Albert mustert ihn einen Moment. »Ich habe auch einmal jemanden verloren«, sagt er milde. »Es ist lange her, aber ich weiß, wie das ist.«
    Schwer zu sagen, ob Bob ihn gehört hat. Dumpf vor sich hin starrend, hängt er zusammengesunken im Sessel, und Tränen laufen ihm übers Gesicht.
    Während Albert wartet, fällt sein Blick auf ein Regal mit Andenken und Fotos – so viele Pokale und Urkunden, dass es ganz danach aussieht, als wäre Sophie Cooper auf dem besten Wege, eines Tages die Weltherrschaft zu übernehmen. Zwischen all den Fotos von einem jungen Mädchen, das Preise und Auszeichnungen bekommt, steht nur ein einziges von einer Frau, die das richtige Alter hat, um Carol zu sein. Sie sieht nicht so aus, wie er sie sich vorgestellt hat, kein bisschen wie eine Connie. Sie hat ein Allerweltsgesicht, wie es einem in jedem Bus, jedem Supermarkt, jeder Bank begegnet.
    Aus dem Rahmen heraus schaut sie Albert an, ein Wuschelkopf mit leise verzweifelter Miene, als hätte die Kamera sie bei einem bösen Fehler ertappt: sie hier im falschen Haus, bei den falschen Leuten.
    Gespannt sieht Albert näher hin. Und tatsächlich, sie drückt die Daumen.
    »Was haben Sie noch mal gesagt, weshalb Sie hier sind?« Bob fährt sich mit dem Ärmel über die Augen.
    »Ihre Frau, äh … sie hat einen Brief verschickt, vor einigen Monaten … aber er konnte nicht zugestellt werden.«
    »Was denn, und jetzt bringen Sie ihn zurück?«
    »Äh, nein …« Er steckt die Hand in die Tasche, schiebt den Brief tiefer hinein. »Er wurde vernichtet.«
    »Wie bitte?« Bob ist offensichtlich verärgert.
    »Das ist ein Routineverfahren«, antwortet Albert zaghaft. »Ich wollte nur persönlich vorbeischauen und ihr erklären, wie sie so etwas in Zukunft vermeiden kann.«
    Fast scheint es, als sei Bob drauf und dran, eine Szene zu machen. Albert sieht die Sache schon außer Kontrolle geraten, Darren zu Ohren kommen, womöglich an noch höherer Stelle landen.
    Aber nein, erneut übermannt Bob der Schmerz, und der kämpferische Funke ist schon wieder erloschen. »Na ja, jetzt ist es sowieso zu spät. Sie kommt nicht mehr zurück.«
    Albert sucht vergeblich nach ein paar aufbauenden Worten.
    »Also, ich mach mich dann wieder auf den Weg«, murmelt er schließlich.
    Bob starrt wortlos zu Boden.
    Ehe Albert hinausgeht, wirft er noch einen letzten Blick auf Carols Foto und schenkt ihr ein liebevolles Lächeln, froh, dass sie sich endlich kennengelernt haben.

71
    Seit Carol mit ihren eigenen Fehlern ein bisschen mehr im Reinen ist, fällt es ihr leichter, auch Athen seine Mängel zu verzeihen.
    Der Berg, der das Stadtzentrum beherrscht, hat es ihr besonders angetan, und Carol beschließt spontan,
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