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Unbekannt verzogen: Roman

Unbekannt verzogen: Roman

Titel: Unbekannt verzogen: Roman
Autoren: Tom Winter
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ist, ist vorbei, okay?«
    »Ja …«
    Ihre Sprachlosigkeit ist wie ein stummer Appell, und Carol ahnt, was Deirde hören will, Worte, die sie nie über die Lippen gebracht, nie auszusprechen gewagt hat, aber jetzt ist der Augenblick gekommen, sich über diese Angst hinwegzusetzen.
    »Ich hab dich lieb.« Deirdre weint stumm am anderen Ende der Leitung. »Ich hab’s nicht immer wahrhaben wollen, und, ehrlich gesagt, hast du es mir auch nie sehr leicht gemacht, aber ich hab dich trotzdem lieb. Ich weiß noch nicht, wann ich wiederkomme, aber wenn ich zurück bin, sprechen wir uns aus, ja?«
    »Das wird schön.«
    »Ja«, entgegnet Carol, selber erstaunt, wie ehrlich sie es meint. »Ja, das glaube ich auch.«

68
    Pat hatte recht: Zu Hause ist es doch am schönsten. Es ist Abend geworden; Albert sitzt vor dem Fernseher – natürlich ohne Ton – und denkt darüber nach, was für ein Glück er doch hat. Die Plätzchendose auf dem Schoß, eine neue Freundschaft zum Greifen nah. Neben ihm schnurrt Gloria auf ihrem frischen Lager aus Toilettenpapier zufrieden vor sich hin.
    Nachdem allmählich die Normalität in sein Leben zurückkehrt, lautet der nächste Schritt jetzt logischerweise Carol. Gut, Pat hat ihm das Vagabundieren verboten, aber gewiss gilt das nicht, wenn man weiß, wo man hinwill? Und außerdem hat er ja jetzt die schöne neue Jacke, die ihn warm hält.
    Er muss husten. »Am besten, ich fahre gleich morgen zu ihr. Was meinst du, ob ich die Plätzchendose mitnehmen soll?«, krächzt er.
    Er sieht Gloria an, seine Beraterin in allen Lebensfragen.
    »Hm, ja, da magst du recht haben. Wir wollen es lieber nicht übertreiben. Ein Brief reicht vollkommen.«

69
    Carols Leben ist ein Scherbenhaufen, sie selbst hat es zerschlagen. Aber mit diesem Gewaltakt hat sie auch Licht und Luft hereingelassen – und allmählich beginnt sie, einen Silberstreif am Horizont zu sehen.
    Er ist noch ganz schwach, dieser erste Hoffnungsschimmer – jedenfalls nicht stark genug, um sie über das ungute Gefühl hinwegzutrösten, dass sie sich nicht nur zum Narren gemacht, sondern auch noch alle Menschen gekränkt und verletzt hat, die ihr je etwas bedeutet haben –, aber als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist sie immerhin schon imstande, sich vorzustellen, dass es einen Weg aus dem Trümmerfeld geben könnte.
    Bob hat sich immer noch nicht gemeldet; sein Schweigen sagt weit mehr als jeder Anruf. Wahrscheinlich hat er sich erst einmal zwei Tage lang den Frust von der Seele gefressen und watet jetzt knöcheltief durch leere Coladosen und Plastikverpackungen. Es kann nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht Stunden sein, bis die Ratten kommen, und dann dauert es nicht mehr lange, bis die Beulenpest ausbricht und sich ganz Croydon in eine Geisterstadt verwandelt, ein moderndes Massengrab mit Autobahnanschluss.
    Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubt, greift Carol zum Hörer und ruft zu Hause an. Ebenso gern würde sie sich in ein rostiges Schwert stürzen, aber sie schuldet es Bob, sich zu melden.
    Erst nach einer kleinen Ewigkeit hebt er ab. Entweder kann er sich nicht entscheiden, ob er mit ihr reden will, oder er kann in seinem Chaos das Telefon nicht finden.
    »Hallo?«
    Er klingt matt, kraftlos, verloren.
    »Bob, ich bin’s.«
    Schweigen.
    »Es tut mir leid, Bob.«
    »Und das fällt dir jetzt erst ein?«
    »Ich ziehe vorläufig zu Helen, bis …«
    »Dann ist es also wirklich aus, ja?«
    »Ja, Bob, es …«
    Er legt auf, das Gespräch ist zu Ende. Ihre Ehe ist zu Ende.
    Mehr konnte Carol von dem Anruf nicht erwarten. Immerhin weiß sie jetzt, dass er noch am Leben ist, und der Zorn in seiner Stimme ist bestimmt ein gutes Zeichen, ein Beweis für den Kampfgeist, den er brauchen wird, um seinen eigenen Weg aus den Trümmern zu finden.

70
    Nachdem Albert nun weiß, wo er hinmuss, nimmt er den Weg zu Carols Haus wesentlich entspannter in Angriff. Im Stillen spricht er sich noch einmal die Sätze vor, die er sich für sie zurechtgelegt hat.
    »Hallo, Carol. Mein Name ist Albert. Ich habe einen Ihrer Briefe bekommen und wollte mich gern bei Ihnen bedanken.«
    Das klingt doch nett und positiv. Zum Beweis hat er sogar seinen Lieblingsbrief mitgenommen. Dass er ihre anderen Briefe auch gelesen hat, braucht er ihr ja nicht auf die Nase zu binden – dass er von ihrer wilden Jugend weiß, zum Beispiel, oder dass ihr Mann nur noch einen Hoden hat. Es genügt vollkommen, ihr zu sagen, dass sie ihn inspiriert und ihm etwas gegeben hat,
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